Der Leiter der Karawane, der inzwischen auch herübergekommen ist, läd den Fremden ans Feuer ein. Die anderen freuen sich über die Abwechslung. Da sie gerade in den Schlafsack kriechen wollten, wird eine neue Wache eingeteilt, so daß du mit am Feuer sitzen kannst. Nachdem ihr euch noch lange angeregt unterhalten habt, geht ihr spät schlafen. Am nächsten Morgen kommt der Fremde mit euch. Abwechselnd reitet er mit jedem auf dem Pferd mit. Abends hilft er bei der Arbeit. Am Lagerfeuer drängen die anderen ihn, zu erzählen, wo er herkommt und was er alleine in der Steppe macht.
"Ich heiße Turin, und habe dieses Land durch ein großes, rotes Tor betreten, dasin
der Steppe steht. Der Torbogen aus rotem, verwitterten Naturstein ist nicht von
Ruinen umgeben. Wenn man hindurchschaut sieht man auch dahinter nur die
endlose, wellige Ebene der Steppe. Dennoch kommen manchmal Menschen heraus
und erzählen von merkwürdigen Orten, an denen sie waren, bevor sie jenes Tor
durchschritten. Auch ich lebte vermutlich in einer anderen Zeit, wahrscheinlich auf
einer anderen Welt, vielleicht sogar in einer ganz anderen Wirklichkeit, als dieser.
Ich war eine Frau und lernte von einer alten, weisen Heilerin. Es war eine
anstrengende, interresannte und schwierige Zeit. Nach Jahren hartem Studiums war
ich schließlich so weit, daß sie mich nicht wesentliches mehr lehren konnte. So
schickte sie mich durch eine kleine, rote Tür, die an einem geheimen Ort mitten in
den Berg zu führen schien. Dahinter fand ich Jumala, die Hexe, die das
Zauberschloß zu dem Ort des Lernens gemacht hat, der es jetzt ist. Alle begegnen
ihr, wenn sie das Zauberschloß durch eine rote Tür betreten. Sie gab mir den
Zaubermantel und die anderen Dinge, die alle ihre Gäste erhalten und schickte
mich auf meine Reise durch das Zauberschloß. Seither habe ich viele Male meine
Gestalt, das Geschlecht und meinen Namen gewechselt und mancherlei Abenteuer
erlebt. Ich sah Orte, die meiner Heimat sehr ähnelten, aber auch fremdartige
Gegenden, die meine Fantasie nicht hätte erfinden können. Ich habe gelernt und
viel erlebt. Oft überlebte ich nur, weil diemächtige Zauberin Bardalon dafür sorgt,
daß niemand im Zauberschloß umkommt. Einst wird mich eine rote Tür des
Schlosses wieder heimführen, so daß ich meinem Volk mit meinen Zauberkräften als
Heilerin und weise Frau dienen kann. Ich weiß nicht, ob ich dann älter oder
jünger sein werde als heute, ob ich früher oder später meine Heimat erreiche, als
ich sie verlassen habe. Doch es heißt, wenn ein Mensch alles erlebt hat, was im
Zauberschloß erfahrbar ist und jede Lehre erfaßt hat, die das Zauberschloß lehren
kann, verläßt mensch es genau in dem Augenblick, in dem er oder sie es betreten
hat, ist genauso alt, wie beim ersten Betreten und sieht auch fast genauso aus, nur
das Haar ist schneeweiß durch die Weisheit, die auf der Reise erworben wurde."
Als er fertig ist, beginnen die anderen wie üblich jedes Wort der Geschichte mit
ihrer Kritik zu zerpflücken, so lange, bis Turin schließlich ganz verwirrt fragt,
warum sie seine Geschichte eigentlich so schlecht machen würden. Da lacht
Torajin der Sänger. Er erklärt:
"In Wahrheit ist deine Geschichte nicht unbedingt schlecht erzählt. Ganz egal,
wie gut du sie erzählt hättest, es wäre immer möglich gewesen, sie noch
besser zu erzählen. Wir kritisieren uns, wenn wir mit einer Karawane
unterwegs sind, immer gegenseitig, weil wir fast alle gelegentlich durch
Erzählen Geld verdienen und deshalb auf erzählerisches Können angewiesen
sind."
Danach hört Turin der weiteren Kritik ernsthaft zu.
Was machst du, nach der nächsten Tagesreise abends am Feuer?
Kersti / 419: | Du erzählst eine Geschichte. |
Kersti / 425: | Du hältst dich ein wenig im Hintergrund. |
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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