318Kersti:

Während des Abendessens erzählt eine junge schwarzhaarige Frau namends Jora euch anderen folgende Geschichte:

Die Macht der Liebe

Ich war einmal Anführerin einer Räuberbande. Eines Tages schickte der König Ritter aus, um uns zu jagen. Er fand unseren Schlupfwinkel nicht, doch von einer sechsköpfigen Gruppe, die Diebesgut verkaufen sollten, kehrten nur vier zurück. Zwei waren schwer verletzt. Kurz darauf gerieten eine Heilerin und ein Heiler in unseren Hinterhalt. Wir umzingelten sie. Sobald sie uns sah, fragte die Frau freundlich, womit sie uns dienen könne.

"Wir haben Verletzte." antwortete ich.
"Bringt uns hin, wir kümmern uns darum." bat die Frau.
Wir taten es. Beim Betreten der Höhle sprach der Mann laut:
"Herr, segne diese Höhle und alle, die hier ein und ausgehen."

Ich sah zu, wie der Mann die Wunden des einen Verletzte verband und Salbe daraufstrich, während die Frau den anderen versorgte. Am Schluß betete er lange um Heilung für meinen verletzten Gefährten. Ich zog mein Messer, um ihn zu erstechen, sobald er fertig war. Ruhig und so langsam, daß ich nicht schaltete, drehte der Heiler sich zu mir um und sagte:
"Ich helfe meiner Gefährtin jetzt bei dem anderen Verletzten."
Ich versteckte das Messer hinter meiner Hand. Der Heiler sah michruhig, freundlich, furchtlos und so ernst an, als wüßte er, daß ich ihn ermorden wollte. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten.

Während die beiden weiterarbeiteten und -beteten, deckte ich den Tisch mit Brot und vergiftetem Wein. Hätten sie unseren Schlupfwinkel verraten, wäre das unser Ende gewesen. Als die Heilerin sagte, daß sie fertig seien, lud ich die beiden zum Essen ein. Der Mann warf mir wieder einen seltsamen Blick zu, dem ich nicht standhalten konnte. Sie aßen langsam, bedächtig und unterhielten sich beiläufig über einen Tag in der Burg eines Fürsten.
"Ich fragte mich damals, ob der Wein vergiftet ist." sagte der Mann gedankenverloren.
Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Sie hatten getan, was sie konnten, um meinen Gefährten zu helfen und ich wollte sie vergiften. Als der letzte Krümel des Brotes vertilgt war, zögerte die Frau einen Augenblick und griff dann zu dem Becher. Schnell faßte ich zu, kippte ihn aus und sagte:
"Dieser Wein ist nicht gut genug für euch. Ich hole besseren."
Die beiden warteten schweigend, bis ich mit unvergifteten Wein zurückkehrte. Dann tranken sie, als sei nichts geschehen.

Ich begleitete sie nachher zurück zu dem Weg, wo sie in unseren Hinterhalt geraten waren. Zaghaft stellte ich die Frage, die mich die ganze Zeit beschäftigte:
"Hattet ihr keine Angst, daß wir euch etwas antun könnten?"
"Wir versorgen jeden Kranken, zu dem wir gerufen werden., Freunde wie Feinde, Reiche wie Arme, Fürsten wie Bettler, Priester oder Verbrecher, ohne Unterschied." antwortete die Frau ernst.
"Ich hätte mich an eurer Stelle nicht in diese Höhle gewagt." sagte ich mit Nachtdruck.
Die Frau warf mir ein seltsames Lächeln zu. Ruhig fragte sie:
"Wäre ich dann noch am Leben?"
Ich wußte keine Antwort.

*Nein. Dann hätte ich die beiden ermordet, wurde mir klar, Ich bin eine Frau, die Reiche wie Arme, Fürsten wie Bettler, Priester wie Verbrecher, Feinde und manchmal auch Freunde ohne Unterschied ermordet hat. Ich habe immer geglaubt, Freundlichkeit sei etwas für Feiglinge.

Feige waren die Heiler nicht. Die selbstverständliche Freundlichkeit und Ruhe, die sie ausgestrahlt hatten, obwohl ihnen klar war, in welcher Gefahr sie schwebten, hatte mich zutiefst beeindruckt. Wegen ihnen wollte ich keine Räuberin mehr sein. Ich blieb noch, bis meine Bandenmitglieder wieder gesund und die Ritter des Königs fort waren und übergab dann die Bande an meinen Stellvertreter. Die Heiler haben uns nicht verraten. Seither ziehe ich als Geschichtenerzählerin durch das Land. Ich habe bei weitem nicht mehr so viel Geld, wie als Räuberin. Oft weiß ich nicht, wo ich die nächste Malzeit herkriegen soll. Doch bin ich zufriedener, als ich es damals war.

Deshalb werde ich bis an das Ende meiner Tage von Ort zu Ort ziehen und jedem von den Heilern erzählen, die alle Menschen heilen, ohne Unterschied.

Aufmerksam, ohne Jora zu unterbrechen, hören die anderen ihr zu, solange sie erzählt. Als sie mit ihrer Geschichte fertig ist jedoch, scheinen sie zu jedem einzelnen Wort eine Möglichkeit zu wissen, wie sie es besser hätte erzählen können.


 
Kersti / 313: Du sagst, daß du es nicht gut fändest, daß alle Joras Geschichte so schlecht machen.
Kersti / 325: Du hörst aufmerksam zu.


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