vor 26.2.01

Das Drachenreich: Der Zirkusdrache

F6.

Erpressung eines Drachenbesitzers

Auf einem Rückflug von einem Ausflug, bei dem unsere Fluggäste am Ziel blieben, um dort Urlaub zu machen, landeten wir mitten in der Nacht neben einem großen Zirkus. Ich schnallte mich los und stieg auf die Drachenhand die wartend neben mir schwebte. Sobald ich sicher saß, setzte mich der Drache direkt vor der Wohnwagentür zu Boden. Ich klopfte. Eine junge Frau öffnete und ich teilte ihr mit, daß ich den Zirkusdirektor zu sprechen wünsche.
"Vater, hier will dich jemand sprechen." rief sie nach hinten und ließ einen stämmigen, grauhaarigen Mann mit einem Stiernacken vorbei.
"Würden sie bitte aus dem Wagen treten und einmal dorthin schauen?" forderte ich ihn höflich auf und zeigte auf Idith, meinen Drachen.
"Mein Gott, was ist denn das?" fragte er entgeistert als er die fünfzig Meter hohe Gestalt sah.
"Das ist der ältere Bruder von ihrem Drachen. Und er ist sehr ungehalten darüber, wie sie mit seiner Schwester umgehen." erklärte ich sanft.
"Aber der Drache enthält die bestmögliche Pflege. Wir würden doch nie so ein wertvolles Tier mißhandeln!"
Die ehrliche Entrüstung zeigte, daß er wirklich nicht wußte, was er tat.
"Erith ist kein Tier. Sie ist euch vielfach an Intelligenz überlegen." erklärte ich in einem tadelnden Tonfall und fuhr dann freundlicher fort "Wißt ihr, warum sie so mager ist?".
"Sie frißt einfach nicht richtig - nicht so viel, wie ein so großes Tier fressen müßte." meinte der Mann und diesmal klang seine Stimme wirklich beunruhigt.
"Sie frißt so viel, wie sie fressen kann. Mehr kann ihr Verdauungssystem nicht bewältigen. Was ihr wirklich fehlt, ist Sonne. Drachen haben einen Farbstoff in der Haut, der eng mit dem Chlorphyll der Pflanzen verwandt ist und beziehen ihren Energiebedarf nahezu ausschließlich aus Sonnenlicht. Deshalb müssen sie täglich stundenlang in der Sonne liegen." erklärte ich.
"Das wußte ich nicht." sagte der Zirkusdirektor und seine Gefühle teilten mir mit, daß er die Wahrheit sagte. Ich nickte und entdeckte das Mädchen, das unsicher auf uns zukam.
"Ach da bist du ja, Nema. Kommt, laßt uns zu dem kleinen Drachen gehen. Ihr habt doch den Schlüssel dabei?" sagte ich.
Der Zirkusdirektor nickte und sah verwirrt auf das Mädchen.
"Sie ist die Reiterin von Erith. Nema, bitte erzähle ihm doch, welche Zirkusnummer ihr beiden euch ausgedacht habt."
Während Nema erzählte wurde der Gesichtsausdruck des Zirkusdirektors zuerst ungläubig und dann wütend und er begann zu schimpfen, daß dieses Tier so etwas nicht in zehn Jahren lernen würde.
"Eure Worte enthalten einen Gedankenfehler: Ein Drache ist kein Tier. Im Gegenteil ist er intelligenter als jeder Mensch. Wir erwarten von euch also nicht, daß ihr zehn Jahre wartet, bis sie endlich mit dem Einüben fertig sind - der Drache weiß jetzt schon Bescheid und wird diese Nummer morgen nach dem Ende des üblichen Programmes vorführen. Und ab jetzt wird Nema sich um ihn kümmern und niemand sonst rührt den Drachen ohne ihre Erlaubnis an, füttert ihn, oder erteilt ihm Befehle. Wir erwarten nichts Unmögliches von euch. Nichts daß euch schaden würde - aber ab heute bekommt der Drache ausreichend Sonne, wird von Nema betreut und führt morgen diese Nummer vor. Sonst kann ich leider nicht dafür garantieren daß Eriths älterer Bruder das nächste mal noch so friedlich ist, wie heute. Habe ich mich klar ausgedrückt?" schloß ich meine Ausführung mit einer scharfen Frage ab.
Der Direktor schluckte, schaute ängstlich zu dem großen Drachen auf und nickte.
"Noch etwas: Die beiden Drachen stehen in ständiger Verbindung. Sollten unsere Forderungen nicht erfüllte werden, werden wir davon sofort erfahren."

Mit diesen Worten drehte ich mich um, sprang federnd auf die Drachenhand, die im gleichen Augenblick neben mir auftauchte und flog mit Idith davon, sobald ich mich fertig angeschnallt hatte.

Ich saß an meinem Computer und schrieb weiter an meier Lebensgeschichte. Idith lag auf dem breiten Felsvorsprung auf der gegenüberliegenden Seite des Vulkansees und sonnte sich ausgiebig.

Plötzlich stürmte unser Herr herein. Ich grüßte ihn freundlich. Statt den Gruß zu erwidern brüllte er mich an:
"Wo wart ihr gestern nacht?"
Aha. Der Zirkusdirektor hatte also gepetzt.
"Wir haben Idiths kleine Schwester besucht. Er hat sie überhaupt nicht an die Sonne gelassen. Sie wäre beinahe verhungert." antwortete ich, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen.
Er machte mich zur Sau, hielt mir einen halbstündigen Vortrag darüber... Nein. Das ganze hatte ihn einfach zutiefst erschreckt und er schimpfte sich seinen Schreck darüber, daß ich so etwas getan hatte von der Seele. Ich hörte still zu - aber ohne einen Millimeter zurückzuweichen.
"Weißt du überhaupt in was für Schwierigkeiten du mich damit bringst?" fragte er am Ende vorwurfsvoll.
"Ich denke schon. Aber ich konnte nicht einfach zusehen, wie Idiths kleine Schwester verhungert." antwortete ich.
Der Mann warf mir einen ungläubigen Blick zu. Diese Unnachgiebigkeit hatte er von mir noch nicht kennengelernt. Noch nie hatte ich zu ihm etwas gesagt, was unfreundlich oder auch nur unhöflich war. Ich hatte jede seiner Anweisungen bisher zuverlässig ausgeführt. Vor allem, weil ich immer sehr zufrieden mit ihm als Herrn gewesen war.
"Was hast du ihm gesagt?" fragte ich.
"Daß es vollkommen unmöglich sei, daß du an dem Tag an der Stelle gewesen sein könntest. Du würdest pausenlos überwacht."
Ich nickte. Und ich war sehr zufrieden damit. Damit hatte er dem Zirkusdirektor gleichzeitig und ohne das zu wollen mitgeteilt, daß er - ob mein Herr davon wußte oder nicht - zumindest keinen wirksamen Schutz gegen den Drachen zu erwarten hatte.
"Es tut mir leid, daß ich dir einen solchen Ärger bereite. Aber ich gehe davon aus, daß sich die gröbsten Wellen innerhalb der nächsten 14 Tage legen werden. Im Endeffekt haben wir dem Mann nur gezeigt wie er seine Probleme mit dem Drachen lösen kann. Und zumindest bis jetzt hat es funktioniert. Erith sonnt sich grade und wartet auf ihren Auftritt." erklärte ich ihm. "Du hast doch Kinder. Hättest du tatenlos zusehen können, wie eines von ihnen verhungert und zu Tode gequält wird, ohne irgendetwas zu unternehmen, und das bei einem Kind, das gerade in dem Alter ist, wo es zu krabbeln beginnt?" fragte ich eindringlich.
Ich redete noch einige Stunden mit ihm, versuchte ihm klar zu machen, wie verzweifelt ich gewesen war und warum ich gar nicht anders hatte reagieren können. Und am Ende schien er es sogar zu verstehen.

Zwei Wochen später stand ich wieder vor dem Wohnwagen. Idith war diesmal zuhause geblieben, denn mein Herr hatte es so befohlen. Ich klopfte an. Diesmal öffnete der Direktor selbst und prallte bei meinem Anblick entsetzt zurück, dann fing er sich wieder und fuhr mich an, was ich eigentlich von ihm wollte.
"Mich entschuldigen." antwortete ich.
Er versuchte seine unendliche Erleichterung zu verbergen. Hinter dieser Erleichterung steckte aber flammender Zorn.
"Ich kann nicht ehrlichen Herzens behaupten, daß ich bedaure, getan zu haben, was ich getan habe. Der kleine Drache wäre sonst verhungert. Aber es wäre mir lieber gewesen, wenn ich ein weniger drastisches Mittel zur Verfügung gehabt hätte, um sein Leben zu retten. Und - ich bin zufrieden, wie sich die Situation entwickelt. Ich werde euch nicht wieder bedrohen." erklärte ich.
"Ich muß ehrlich zugeben, daß ich euch am liebsten erwürgt hätte."
Ich lachte:
"Das kann ich mir vorstellen. Aber ich habe euch vorher genug Briefe geschrieben und ihr habt nicht auf meine Ratschläge gehört. Und Nema hat euch auch mehrfach gesagt, wo die Probleme liegen und ihr habt ihr nur das Wort verboten. Ich war einfach mit meinem Latein am Ende. Ich bitte euch darum, meine Briefe in Zukunft wenigstens zu lesen. Mein Drache steht im ständigen telepathischen Kontakt mit eurem. Es könnte wichtig sein."
"Das werde ich tun."
Dahinter steckte noch immer Groll. - Nein Haß. Ich hatte mir einen Feind fürs Leben gemacht. Das wußte ich jetzt. Er gehörte zu den Menschen, die es niemals verzeihen können, wenn man sie erpreßt. Doch er würde es nicht an dem jungen Drachen auslassen.
"Und dieser Mistkerl von deinem Herrn hat dich auch noch gedeckt!" sagte er.
"Nein. Ich bin überzeugt, er hat im ersten Moment wirklich nicht geglaubt, daß ich das getan haben könnte. Ich war ihm bis zu dem Tag noch nicht einmal in Kleinigkeiten ungehorsam. Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt, wie nach dem Augenblick, als ich ihm gesagt habe, daß ich tatsächlich hier war. Und ich glaube, er wird mich nie wieder alleine fliegen lassen." erklärte ich.
"Wenn er dir eine Lüge geglaubt hätte, warum hast du ihm dann die Wahrheit gesagt?"
"Weil ich nie lüge."

Zum Abschluß übergab ich ihm noch das Schreiben meines Herrn. Ich beobachtete ihm beim lesen. Er wirkte besänftigt, als er fertig war. Als Entschuldigung dafür, daß er nicht auf mich aufgepaßt hatte, bot mein Herr ihm an, sämtliche Schulden zu übernehmen, die der Zirkus im Augenblick hatte. Der zweite Teil war eher eine Entschuldigung an mich. Er meldete sein Interesse an, Nema und ihren jungen Drachen zu kaufen, sobald sie zu groß für den Zirkus seien. Mein Herr machte sich Vorwürfe, daß er sich nicht rechtzeitig um die Probleme des Drachen gekümmert hatte. Er hätte ihn einfach kaufen können, bevor ich dorthingegangen war, weil ein Drache, der offensichtlich am verhungern war und sich weigerte, etwas zu tun, für einen Zirkus nicht von Wert wäre. Jetzt, wo ich die Probleme auf meine Art gelöst hatte, war es anders. Das Angebot würde sicherstellen, daß der junge Drache nie wieder in eine so schlimme Situation kam. Ein Drache war teuer - ebenso wie das Schulden begleichen. Aber es viel in den Rahmen, den mein reicher Herr aus der Portokasse begleichen konnte.
"Du kannst deinem Herrn bestellen, daß ich seine Entschuldigung annehme." sagte der Zirkusdirektor schroff zu mir.
"Und meine?" fragte ich.
"Nicht." antwortete er.
Ich nickte. Es war in Ordnung so. Wenn er eine Möglichkeit finden sollte, seinen Ärger an mir persönlich auszulassen, so würde ich damit fertigwerden. Aber es sollte niemand anders darunter leiden müssen.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


F13: Kersti: Voriges: Durch Drachenaugen gesehen
FI4: Kersti: Überblick: Der Zirkusdrache
F5: Kersti: Der Sohn des Drachenkönigs
F10: Kersti: Was sind Drachen
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Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
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Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de