5/04
Gedorn saß zusammengesunken am Tisch und brütete vor sich
hin.
"Gedorn?" sagte ich.
Er zuckte zusammen, schaute auf und ich konnte sehen, daß er Angst
hatte.
"Jetzt schon?"
"Nein." antwortete ich "Ich bins, Kara, ich wollte nur mit
dir reden."
"Du lebst?" ungläubig starrte er mich an - oder eher den
Lautsprecher.
"Ich glaube nicht, daß ,leben' so ganz das
richtige Wort ist." antwortete ich.
Er lachte.
"Du hast immer noch deinen schrägen Humor!"
"Ich habe auch nicht das Gefühl, mich plötzlich in jemanden
anders verwandelt zu haben. Es fühlt sich nur alles so tot an."
antwortete ich.
"Wie ist es denn - die Operation meine ich."
"Schlimmer als du dir vorstellen kannst - zuerst die Schmerzen - aber
dann hört das alles auf und man fühlt überhaupt nichts
mehr - und das ist noch schrecklicher. Und dann kommen die
Alpträume. Und nachher, wenn man durch die Schiffssysteme sieht ist
alles so tot. Man hat das Gefühl, es gäbe nichts lebendiges
mehr auf der Welt." erklärte ich.
"Wer sollte da überhaupt noch leben wollen, wenn man nichts mehr
fühlt?" fragte er.
"Ich weiß nicht. Ich wollte eigentlich gar nicht mit dem
Nervenarzt sprechen, aber er hat mich gefragt, ob ich mit dir sprechen
will."
"Und mit mir wolltest du sprechen?"
"Ich dachte mir, du könntest es brauchen." antwortete ich.
Wir redeten dann über Belanglosigkeiten, bis
er zur Operation gerufen wurde.
"Kara bitte laß mich nicht allein!" flehte er mich an, als
sie ihn wegführten und ich stellte mich selbst zur Dusche durch
und redete weiter mit ihm.
Es war eine scheußliche Erfahrung, noch einmal eine solche
Operation mitzuerleben. Zumal die Erinnerung an die Schmerzen noch so
frisch war - andererseits wußte ich nur zu gut, wie man sich bei
einer solchen Operation fühlt und ich wollte ihn nicht mit diesen
Schmerzen allein lassen.
Ich redete mit ihm und richtete ich danach, was er hören wollte. Ich bemühte mich, diese verdammte tonlose Maschinenstimme mitfühlend klingen zu lassen und war gleichzeitig froh, daß er nicht hören konnte, wie ich innerlich weinte bei dem, was ich sah. Von außen sah es nicht besser aus, als es sich anfühlte, wenn man operiert wurde...
Sobald er im Bett lag und durch die Betäubungsmittel eingeschlafen war, wandte ich mich an den Psychologen und forderte, mit seinem Vorgesetzten sprechen zu dürfen. Er schaltete mir die Leitung frei und ich redete stundenlang auf den Vorgesetzten ein, damit er die Operation änderte ... beispielsweise sollten sie um Himmels Willen die Zeit verkürzen in der man nichts wahrnehmen kann. Kein Wunder das die Leute alle schon wahnsinnig geworden waren, wenn sie endlich ins Schiff eingebaut waren! Dabei erfuhr ich, daß es sich nur um wenige Stunden gehandelt hatte - eine einzige Nacht. Ich hatte geglaubt, es wären viele Wochen gewesen. Der Herr versprach mir, meinen Rat zu befolgen.
Am nächsten Tag redete ich noch einmal stundenlang mit meinem Freund, während sein Körper Stück für Stück in seine Bestandteile aufgelöst wurde, bis nur noch das Nervensystem zurückblieb und an die elektrischen Kontakte angeschlossen war.
Schon vor der Operation waren die Kontakte mit einer Kamera und einem Mikrofon verbunden worden. Ich hatte also Erfolg gehabt.
Quelle: Erinnerungen an eigene frühere Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/,
Kersti_@gmx.de