10/06

Reinkarnationserinnerung: Joitha der Akrobat

F58.

Verrückte Welt

Langsam kam ich wieder zu mir. Die Kiste, in der sie mich verschickt hatten, war immer noch geschlossen, aber ich hörte, wie sich außen jemand daran zu schaffen machte. Ich lauschte auf die Geräusche. Es schien sich nur um einen einzelnen Menschen zu handeln.

Als er schließlich den Deckel anhob, hob ich den Blick und sah dem Mann in die Augen. Sein Gesicht gefiel mir nicht. Ich mußte noch einen Augenblick stillhalten, während er die Kanülen zur intravenösen Ernährung herauszog, dann stand ich auf, sprang aus der Kiste und sah mich um. Es war eine eher schäbige, kleine Küche, in der die Verschickungskiste jetzt auf dem Tisch stand.

Ich drehte mich um und sah den Mann, der mich ausgepackt hatte, fragend an.
"So." sagte er. Das war nicht sehr informativ. Ich blieb abwartend stehen und sah zu seinem Gesicht auf, das höher war als meines, obwohl ich auf dem Tisch und er auf dem Boden stand.
"Daß ich Joitha heiße und als Akrobat gezüchtet und ausgebildet bin, dürftet ihr schon aus meinen Papieren wissen. Und mit wem habe ich die Ehre?" unterbrach ich die unbehagliche Stille schließlich mit der Frage, die mir die ganze Zeit im Kopf herumging.
"Ich bin der stellvertretende Leiter der Schauspieltruppe - und du hast mir zu gehorchen, ist das klar? Wenn du unverschämt wirst, kann ich dich auch verprügeln."
"Selbstverständlich." antwortete ich - und dachte mir, daß ich ihn gar nicht mochte.
Ich habe etwas gegen Leute, die versuchen, mich mit ihrer eingebildeten körperlichen Überlegenheit einzuschüchtern. Ich hoffte, daß die Leute, mit denen ich nun zusammenarbeiten mußte, nicht alle so waren. Wenn doch, würde ich mir schnellstens überlegen, wie ich hier wegkam.

"Komm mit." befahl er.
Ich sprang vom Tisch und folgte ihm durch Gänge, in denen der Putz von den Wänden bröckelte. Wenn ich fliehen wollte, würde ich hier sicher bessere Gelegenheiten finden, als in den Aufzuchttrakten der Firma Festrana, die mich hergestellt hatten. Aber dazu mußte ich erst einmal herausfinden, wo ich war, wie meine Arbeitszeiten waren und wohin ich überhaupt fliehen könnte, wenn ich nicht hierbleiben wollte.
"Das ist unser Herr - also sei höflich."
Er öffnete mit diesen Worten die Tür zu einem Raum, der etwas sauberer, heiler und vor allem bunter aussah als die Zimmer, die ich bis jetzt hier gesehen hatte. Die Möbel waren so stark verziert, daß ich mir manchmal nicht sicher war, ob es sich bei ihnen um Schränke oder reine Schmuckstücke handelte.

"Laß uns bitte allein, Todis." schickte der Mann, der mein Herr sein sollte, den weg, der mich hergebracht hatte.
Der Herr sah alt aus, ziemlich ausgezehrt, aber freundlich. Das besagte natürlich nicht viel, denn ich wußte, daß Menschen oft schon alt aussehen, wenn unsereins gerade mal erwachsen ist. Ich blieb zögernd in der Tür stehen und sah ihn fragend an.
"Ich bin Jamie, der Besitzer dieser Bruchbude und dein Herr, Joitha. Ich dachte, bevor ich eine weitergehende Entscheidung treffe, möchte ich dich erst einmal kennenlernen. Setz dich."

Er wies auf einen Stuhl, den er auf eine Kiste gestellt hatte, so daß der große Tisch für mich in der richtigen Höhe war. Ich sprang hoch und setze mich gehorsam hin. Der Tisch war gedeckt, doch ich hätte nicht sagen können, mit was für Speisen. Immerhin roch es angenehm und süß.
"Möchtest du Kuchen?"
"Ja gerne Herr." sagte ich und lächelte höflich.
Obwohl ich keine Ahnung hatte, was Kuchen ist. Aber es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen. Und da er offensichtlich freundlich sein wollte, wollte ich ihn nicht vor den Kopf stoßen. Als ich den Kuchen, den er mir gab, probierte, stellte ich fest, daß er nicht nur gut roch sondern auch gut schmeckte. Ich wagte nicht, schneller zu essen, denn wenn wir beim Benimmunterricht angefangen hatten, das Essen herunterzuschlingen, nur weil wir es mochten, waren wir immer bestraft worden. Und vielleicht wäre mein neuer Herr dann auch ärgerlich. Aber der Kuchen schmeckte wirklich gut. Das war beim Unterricht selten gewesen ... manchmal hatten sie uns auch so richtig scheußliche Sachen gegeben, und wir mußten sie trotzdem essen und so tun, als würden wir sie mögen. Denn, so hatten sie behauptet, wir sind nicht zu unserem Vergnügen gezüchtet worden, sondern damit unsere Herren ihre Freude an uns haben. Der Kaffee, den es dazu gab, schmeckte eigentlich scheußlich, also trank ich ihn noch langsamer ... aber nicht so langsam, daß es unhöflich gewesen wäre.
"Wenn du noch Hunger hast, kannst du dich gerne bedienen." sagte der Herr.
"Danke, Herr." antwortete ich.
Ich nahm nichts, weil ich gelernt hatte, daß ich bei so förmlichen Malzeiten nur das essen darf, was mir direkt aufgedrängt wird. Keinesfalls darf ich mich einfach selber bedienen.

Der Herr wirkte plötzlich, als würde er sich unbehaglich fühlen, deshalb rechnete ich schon mit was Schlimmen, als er begann zu reden. Doch tatsächlich beantwortete er mir einfach all die Fragen, die mir im Kopf herumgingen.
"Ich habe dich gekauft, weil ich für eine kleine Schauspieltruppe jemanden brauchte, der Kinderrollen übernehmen kann, ohne durch die Kinderschutzvorschriften zu sehr beschränkt zu sein."
Ich nickte. Über Kinderschutzvorschriften wußte ich nur, daß sie für mich nicht galten, weil ich mit 20 schon volljährig war.
"Vormittags habt ihr frei, nachmittags wird geprobt, wenn nicht Kindervorstellung ist und abends ist Vorstellung."
Wieder nickte ich - fliehen würde ich dann also nachts. Dann würden sie erst mittags merken, daß ich weg bin.

"Als erstes Stück wirst du die Paretha einüben."
Ich nickte ernst. Das Stück kannte ich aus dem Schauspielunterricht. Ich hatte mich oft gefragt, ob die Menschen draußen in der freien Welt wirklich immer so verrückte Dinge taten und sagten, wie die Figuren aus den Theaterstücken oder ob sie sich das so gerne ansahen, weil sie es selbst verrückt fanden. Aber diese Frage konnte ich meinem neuen Herrn wohl kaum stellen.
"Ich nehme an, ich soll den Idor spielen?" antwortete ich.
Ich hatte auch alle anderen Rollen gespielt - aber Idor war das einzige Kind in diesem Stück, deshalb war uns gesagt worden, daß das mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rolle wäre, die wir in einem echten Theater spielen würden.
"Ja. Morgen ist die erste Probe. Die Meisten haben das Stück schon einmal gespielt, deshalb gehen wir es nur mehrfach durch - und jeder läßt seine Fantasie ein wenig spielen, um die Rolle jedesmal ganz anders zu zeigen als beim vorhergehenden Durchgang. Es kann ruhig albern und völlig unangemessen sein. Wer nicht gelegentlich herumalbert und seinen Spaß hat, wird nie ein guter Schauspieler."
Ich sah überrascht auf. So etwas hatte mir noch nie jemand gesagt.

Bei der Ausbildung wurde jede Albernheit zum Anlaß für härteste Strafen genommen. Allerdings, der Aufseher war bei unserem letzten Scherz, als ihm der Vorhang samt Aufhängung auf seinen Kopf gefallen war, auch im Krankenhaus gelandet. Das war sicher nicht nett von uns, auch wenn er es für seine sadistischen Strafen eigentlich verdient hatte. Glücklicherweise hatten die Herren nicht herausgefunden, daß wir die Schrauben gelockert hatten, so daß der Vorhang beim zuziehen herunterfallen mußte. Warum sie es nicht gemerkt haben, ist mir allerdings schleierhaft. Die Schrauben wären der erste Gedanke, auf den ich gekommen wäre, wenn so etwas passiert. Ich glaube, die Aufseher glauben, weil wir klein und süß sind, müßten wir auch dumm sein ... und das sind wir ganz bestimmt nicht.

"Kennst Du den Text?" fragte mein Herr.
"Ja. Ich habe die Rolle schon öfter gespielt." antwortete ich und lächelte.
Vielleicht, wenn er herumalbern in der Probe akzeptabel fand, vielleicht konnte ich ihn dann doch fragen? Einen Versuch war es wert.
"Sag mal ... benehmen sich die Leute von draußen wirklich so verrückt wie in den Theaterstücken?" fragte ich.
Der Mann starrte mich einen Augenblick überrascht mit offenen Mund an, und ich dachte schon, ich hätte die Frage besser doch nicht gestellt, als er ganz ernsthaft antwortete:
"Das kommt darauf an, was du meinst. Damit ein Theaterstück beim Puplikum ankommt, muß es sowohl viele kleine Alltäglichkeiten, als auch etwas ungewöhnliches oder verrücktes enthalten. Was fandest du denn am verrücktesten daran?"
Ich überlegte, ging im Geiste das ganze Stück mit seinen bizarren Figuren noch mal durch und fand keine Antwort. Schließlich sagte ich:
"Einfach alles!"
Er lachte, aber nicht unfreundlich.
"Dann findest du wohl all das verrückt, was wir normal finden." erklärte er.
Jetzt war ich also immer noch nicht schlauer. Und mir fiel keine Frage ein, die mir weitergeholfen hätte.

Danach führte er mich durch die Räume des kleinen Schauspielhauses: die kleine Bühne, auf der die Aufführungen stattfanden und der große Zuschauerraum mit seinen Toiletten sahen sehr sauber und sogar neu aus. Unsere eigenen Räume, in denen wir wohnten, aßen und uns wuschen dagegen waren alt und mit Möbeln eingerichtet, wo die Farbe abblätterte, genau wie sein eigenes Schlafzimmer. Komischerweise hatten die Möbel trotzdem unterschiedliche Farben und Verzierungen, statt grau, unbequem und häßlich zu sein. Für mich hatte er ein altes Kinderbett auf eine Kommode gestellt, an der eine kleine Leiter befestigt worden war.

Die anderen Schauspieler schauten nur kurz auf und grüßten, als wir eintraten - dann machten sie die Dinge weiter, mit denen sie gerade beschäftigt waren. Verschiedene Spiele und Kaffeetrinken - alles Sachen, für die wir bestraft worden wären, wenn uns jemand dabei erwischt hätte. Je länger ich das beobachtete desto verwirrter wurde ich. Er hatte gesagt, daß das alles Sklaven waren, die ihm gehörten. Warum taten sie dann so, als dürften sie das?

Die Tür nach draußen war abgeschlossen - andererseits war es ganz einfach, über die Bühne in die Zuschauerräume zu gelangen und danach durch das Toilettenfenster nach draußen zu klettern. Nicht nur für mich - auch für Menschen. Vor den Fenstern unserer Wohnräume waren nur alte Gitter, die so verrostet waren, daß ich sie mit einer von den als Turngeräte dienenden Stangen leicht hätte auseinanderbiegen können. Und ich bin schließlich ziemlich klein und schwach! War noch niemand auf den Gedanken gekommen, einfach wegzulaufen? Oder war draußen was gefährliches?

Auch das gemeinsame Abendessen verwirrte mich - sie benahmen sich wie Kinder, die den Aufsehern entwischt sind und gerade einen Streich aushecken ... aber in Gegenwart des Herrn, der auch noch mit herumalberte. Und niemand wurde bestraft.

Vielleicht hatte der Herr auch ganz recht und ich finde alles verrückt, was er normal findet.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


F59. Kersti: Fortsetzung: Der Sinn des Jonglierens
F5. Kersti: Voriges:
FI6. Kersti: Inhalt: Joitha der Akrobat
VA106. Kersti: Reinkarnation
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V231. Kersti: Frühere Leben von mir
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Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de