erste Version: 6/2020
letzte Bearbeitung: 6/2020

Das Sternenreich der Zuchtmenschen: Verhandlungen mit Glühwürmchen

F1771.

"Wenn man mich jetzt in einen Menschen zurückverwandelte, würde ich das nicht wollen, auch wenn ich immer noch einigem nachtrauere" meinte das Stationsgehirn

Vorgeschichte: F1770. Dira von Leuenhorst: Für mich war der größte Neubau vorgesehen, den die Glühwürmchen gebaut haben

Dira von Leuenhorst erzählt:
Ich begab mich danach also zusammen mit Darion auf die Raumstation und zum Schiff. Da ich nach Torins Liegeplatz an der Station fragen mußte, wechselte ich auch mit Gendis vom Tal, dem Stationsgehirn ein paar Worte und er meinte, daß die neuen gezüchteten Schiffe irgendwie komisch wären.
"Jeder normale Mensch braucht ein paar Jahre, um sich daran zu gewöhnen, ein Schiff zu sein und manche schaffen es nie. Aber die Zuchtmenschenschiffe fliegen herum und finden das alles wunderbar. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, ihm die Freundschaft zu kündigen!"
"Warum um alles in der Welt sollte ich das denn tun?" fragte ich.
"Ich weiß auch nicht, warum die Leute das tun, aber es gibt sehr viele Menschen, die plötzlich nicht mehr mit ihren Freunden reden, wenn man die zum Gehirnschiff gemacht hat. Man hat den Eindruck, sie sehen einen plötzlich nicht mehr als Mensch. Früher hatte ein Gehirnschiff selbst dann, wenn es eine große Mannschaft hatte, höchstens ein oder zwei Menschen, die wirklich mit ihm geredet haben. Der Pilot und vielleicht noch eine weitere Person. Das wurde erst durch die Zuchtmenschen deutlich besser, weil die immer im Datennetz miteinander quatschen und jedes Gehirnschiff in ihre Gespräche miteinbeziehen. Selbst die XZB12s unterhalten sich immer mit den Schiffen."
Ich fragte, ob denn unsere Leute die Gehirne auch so furchtbar behandeln.
"Sie wahren die Form. Leute vom Lichtreich sind oft kraß unhöflich zu Schiffen. Die vom Löwenreich sagen guten Tag und auf wiedersehen, bitte und danke, aber mit den meisten kann man auch kein richtiges Gespräch anfangen. Es scheint, daß der Mehrheit der Menschen die Fähigkeit fehlt, einen Menschen als Mensch wahrzunehmen, wenn sie kein Gesicht sehen und das merkt man, ob sie sich bemühen höflich zu sein oder nicht. Und ich glaube die, die das nicht können, sterben wenn man versucht sie zum Gehirnschiff zu machen. Die einen schneller, die anderen langsamer."
Ich frage das Gehirn, wie es gewesen war, zum Gehirnschiff gemacht zu werden.
"Zuerst furchtbar. Und damit meine ich nicht die Operation. Dabei gibt es sowieso ein merkwürdiges Phänomen. Früher sind von fünf Leuten, die sie operiert haben vier gestorben. Dann hat so ein ekelhafter Typ, der einfach nur Spaß daran hatte, sinnlos grausam zu sein, angefangen von seinen Patienten zu verlangen, daß sie bei jedem Schritt der Operation sagen sollen, welches Organ er jetzt herausgenommen hat. Seltsamerweise hat das dazu geführt, daß, seit sie das so machen, doppelt so viele Patienten überleben. Daher machen das auch die gezüchteten Ärzte heute so, nur sind die einfach besser - sie sind nicht so herzlos, sondern kümmern sich richtig um die Leute. Die Zuchtmenschen, die sie seit neuestem zu Gehirnschiffen operieren, sind da aber richtig komisch. Die sagen nämlich jeden Schritt der Operation vorher an und kontrollieren ob die Ärzte auch wirklich alles richtig machen."
Das war wirklich gruselig.
"Nach der Operation dachte ich, mein ganzes Leben ist vorbei. Das war in gewisser Weise auch richtig. Alles was vorher mein Leben gewesen war, war in unerreichbare Ferne gerückt. Außerdem war es lange ein Problem, daß es zu wenige Leute gab, mit denen man Freundschaft schließen konnte. Das waren fast nur die damals noch wenigen anderen Gehirnschiffe und deren Piloten. Wenn man jemanden gefunden hat, mit dem man sich richtig unterhalten kann, hat man zugesehen, daß der bleibt, weil wir einfach zu einsam waren. Dann kamen die Zuchtmenschen und haben uns wie selbstverständlich in alle ihre Gespräche einbezogen. Aber abgesehen von den Freundschaftenproblem war die Hauptschwierigkeit, daß man sich umorientieren mußte. Was man früher so zu seinem Vergnügen gemacht hat, egal wie banal es gewesen war, ging einfach nicht mehr und man mußte sich was neues ausdenken. Mit der Zeit habe ich eben andere Dinge gefunden, die mir Spaß machen und nach ein paar Jahren hatte ich viel mehr Hobbys als vor der Operation, weil ich immer noch etwas Konzentration übrig hatte, um irgendeinem Vergnügen oder meiner Neugier nachzugehen. Wenn man mir jetzt anbieten würde, mich in einen Menschen zurückzuverwandeln, würde ich das eigentlich nicht mehr wollen, auch wenn es immer noch Sachen gibt, denen ich nachtrauere. Beispielsweise bin ich früher gerne geritten."

Ich hatte keine Zeit, dem Gedanken nachzuhängen, denn ich war bei Torin angekommen und wurde von ihm bereits begrüßt:
"Dira, willkommen an Bord. Ich würde dir ja gerne zuerst mein schönes neues Schiff zeigen, aber die Zuchtmenschen warten bereits in der großen Halle auf dich und wir freuen uns alle, daß du unsere Kapitänin sein wirst. Die Leute von deinem alten Schiff und die Freigeborenen kommen gerade an Bord und richten sich in ihren Quartieren ein, sie werden also fertig sein, wenn du mit den Zuchtmenschen geredet hast."
Und das hieß natürlich, daß ich ihnen auch eine Willkommensrede halten mußte. Tatsächlich war die wichtiger als das übliche seichte Gelabere in Gesellschaften, wo sowieso jeder weiß, wie der Hase läuft. Ich hatte eine Besatzung, die aus drei verschiedenen Traditionen stammte. Zum einen waren da die Zuchtmenschen, die zwar eine sehr stringente Disziplin gelernt hatten, aber dazu neigten, unaufällig nach ihrer eigenen geheimen Agenda die Politik des Sternenreiches abzuändern. Dann waren da die Adeligen des Lichtreiches, die meinten, alles tun zu dürfen und zum Ausgleich nicht arbeiten zu müssen - und das würde ich ihnen ganz bestimmt nicht durchgehen lassen. Ihre Kollegen, die sich aus einfacheren Verhältnissen hochgearbeitet hatten, waren eine ganz andere Sorte. Sie neigten nämlich dazu, in ganz unangemessener Weise vor kriminellen Adeligen zu kuschen und das würde ich ihnen auch nicht durchgehen lassen. Und dann gab es noch die Leute aus meiner eigenen Heimat, die den Rest der Mannschaft für durchgedrehte Idioten oder unterdrückte Sklaven hielten und generell meinten, sie wüßten und könnten alles besser als die Freigeborenen des Lichtreiches und nur vor den Zuchtmenschen Respekt hatten. Einerseits waren sie tatsächlich besser ausgebildet als die freigeborenen Offiziere des Lichtreiches, andererseits war Besserwisserei keine gute Haltung.

Meine Untergebenen mußten sich je eine Rede anhören, ich mußte drei vorbereiten und halten und das zeigte mal wieder, wie gut es war, daß ich eine persönliche Dienerin hatte, die mir alle Arbeit in meinem persönlichen Alltag abnahm, die man überhaupt an andere delegieren kann. Ich lächelte ihr zu und meinte, daß ich sie wohl wieder mal beim Kammer einräumen völlig allein lassen muß.
"Ach wissen sie, das ist mir sowieso lieber. Dann kann ich in Ruhe all die zusätzlichen Überwachungsgeräte verstecken, die ich immer brauche." sagte, Kira, meine Dienerin.
Ich drohte ihr mit dem Finger, woraufhin sie grinsend tat, als wäre sie ganz furchtbar verängstigt durch diese Geste. Sie war eine Sklavin, die von der Lichtreichs-Armee gekauft worden war, um hochrangige Offiziere zu bedienen und seit ihr klar war, wie gruselig es mir erschien, daß sie wirklich in jedem Raum Überwachungskameras installieren und daß ich sie nicht für solche Worte bestrafen würde, zog sie mich mit dem Thema auf, wenn wir unter uns waren. Nun würde sie garantiert keine zusätzlichen Überwachungskameras verstecken, denn das war schlicht unnötig bei der Ausstattung, die die Schiffe des Lichtreiches hatten. Aber sie würde durchaus meine dienstlichen Gespräche über die Überwachungskameras abhören, um immer im Blick zu behalten, wann es Zeit ist, uns den Kaffee reinzubringen. Das war die offizielle Begründung. Allerdings war sie nicht dumm genug, um nicht neugierig zu sein, sondern gab im Gegenteil immer wieder intelligente Kommentare zu den Entscheidungen ab, die ich dienstlich getroffen hatte. Außerdem nahm sie mir viel organisatorischen Kleinkram ab, indem sie ihn einfach so regelte, wie sie wußte, daß ich so etwas regeln würde.

Während ich Kira machen ließ, wie sie dachte, war ich da bei den Zuchtmenschen vorsichtiger. Darion - oder mein leitender Techniker Silva LZB122-3-2 - würden mir jederzeit gerne meine Reden schreiben, aber das machte ich lieber persönlich, denn sie neigten dazu, ihre politische Agenda unauffällig zwischen den Zeilen einzubringen und wenn ich selber mir meine Notitzen mache, müssen sie mir gewünschte Änderungen erklären, so daß ich weiß, was ich sage! Als ich das so zu Darion gesagt habe, meinte er:
"Das hat Tharr auch immer gesagt!"
Ich habe ihm geantwortet:
"Daran merkt man, daß Trerons Lieblingskindergartenkind eben auch nicht dumm ist."
Darion sagte dazu gar nichts, aber ich mußte an Torins Spruch bei unserer ersten Begegnung denken, daß sie immer denken, daß die Freigeborenen ja nichts dafür können, daß sie nicht gezüchtet sind und daß man deshalb nachsichtig mit ihrer Dummheit sein muß.

Ich glaube, um gut mit Zuchtmenschen umgehen zu können, braucht man vor allem ein gesundes Selbstbewußtsein. Sie sind nicht bösartig und wollen einen auch gar nicht unterbuttern, aber wann immer man verunsichert oder aggressiv reagiert, benutzen sie das um einen zu manipulieren. So lange man selber im Gleichgewicht bleibt und ausgewogen reagiert, bekommt man mit, was sie wollen und kann daher im Zweifelsfall gegensteuern.

Kersti

Fortsetzung:
F1461. Dira von Leuenhorst: Daß ich eine bunte Mischung an Freigeborenen unserer Verbündeten, eigenen Offizieren und Zuchtmenschen als Offiziere hatte, machte mir noch größere Sorgen, als ich zugegeben hatte

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben