Meine frühesten Erinnerungen handeln davon wie wir in endlosen Variationen Krieger und Kriegerin spielten. Wir tobten und lachten, spielten endlose Kämpfe gegen böse Feinde, ahmten das vertraute Miteinander der Erwachsenen und ihre ständigen Kampfübungen im Spiel nach.
Meine Eltern waren für mich die wichtigsten Menschen, bei denen ich mich immer sicher und geborgen fühlte. Hatten sie einmal keine Zeit, so waren andere da. Wann immer ich Angst oder ein kleines Wehwehchen hatte, war einer der Erwachsenen des Dorfes zur Stelle, tröstete mich und half mir.
Als ich das erste mal ein echtes Schwert in der Hand hielt, war ich fünf. Ich hatte es nach dem Frühstück von meinem Vater bekommen, mit der einzigen Anweisung, ich solle mich gegen seine Angriffe verteidigen. Das Schwert war klein, die Waffe eines Kindes, doch kam es mir sehr schwer vor. Heute weiß ich, daß mein Vater sich langsam bewegte und nur einen Bruchteil seiner Kraft einsetzte. Jedesmal, wenn es mir nicht gelang, einen seiner Hiebe abzuwehren, traf mich die flache Klinge des großen Schwertes. Also paßte ich höllisch auf, bemühte mich, meinen Vater nicht aus den Augen zu lassen, jeden seiner Hiebe rechtzeitig zu erahnen und abzufangen. Ich fand mich schnell in den Rhythmus des Kampfes, ließ die Waffe meines Vaters an meiner Klinge abgleiten, fing den nächsten Hieb ab, dann stach ich zu. Mein Vater fing den schnellen Angriff ab und hieb mir mit derselben Bewegung die flache Klinge gegen die Beine. Ich stürzte, rollte mich unter seinem Körper hindurch auf die Füße und wurde durch den nächsten Hieb erneut von den Beinen gerissen. Ich rollte mich von meinem Vater weg, sah die Klinge auf mich zusausen und schlug sie hart zur Seite. Die folgenden Stunden war ich nur damit beschäftigt, die Hiebe meines Vaters abzuwehren. Es gelang mir nicht, einen weiteren Angriff zu versuchen.
Als meine Mutter uns zum Mittagsessen rief, sprang mein Vater zwei Schritt zurück, hob beide Hände und rief: "Halt." Ich erstarrte mitten in der Bewegung und steckte ruhig meine Waffe in die Scheide. Dann zog mir meine Mutter einen warmen Mantel über und trug mich zum Eßtisch. Erst jetzt spürte ich so richtig, wieviele der Hiebe mich getroffen hatten. Mein ganzer Körper fühlte sich wund und zerschlagen an. Ich weinte. Meine Mutter strich mir tröstend durchs Haar, während ich schluchzend aß. Nach dem Essen brachte sie mich zurück in den Kampfübungsraum und beobachtete mit Interesse, wie ich kämpfte. Meine Arme fühlten sich wie Pudding an, zittertern unkontrolliert und ich brachte kaum die Kraft auf, einen Hieb ausreichend abzulenken, daß er meinen Körper nicht mehr traf. Ohne mir dessen bewußt zu sein, weinte ich die ganze Zeit vor Erschöpfung. Einmal versuchte ich wegzurennen. Mein Vater nutzte die Gelegenheit, einen ganzen Hagel von Hieben mit der flachen Klinge auf mich niedergehen zu lassen. Ich drehte mich wieder zu ihm um und verteidigte mich.
Abends brach ich vor Erschöpfung zusammen, als mein Vater
"Halt" rief und das Zeichen für das Ende des Kampfes gab.
Meine Mutter nahm mich auf den Arm und trug mich in mein Bett. Ich weinte
hemmungslos. Liebevoll strich sie mir durch das Haar. Dann sagte sie
leise:
"Weine ruhig, Kind. Tränen sind etwas Heiliges. Wer seine
Kräfte darauf verschwendet, seine Tränen zu unterdrücken,
wird nie ein guter Krieger."
Meine Mutter sprach leise und liebevoll, strich mir durch die Haare und
sagte:
"Ich habe fünf Söhne, alle werden sie Krieger und das ist gut
so. Sieh mal, Rundon solche Übungen sind hart, aber sie sind
notwendig, denn nur, wenn dir jeder Fehler ganz
unmißverständlich vor Augen geführt wird, indem dich das
Schwert trifft, lernst du schnell genug, gut zu kämpfen. Und du
mußt lernen ein sehr guter Krieger zu werden, sonst lebst du nicht
lange. Ein schlechter Krieger ist bald ein toter Krieger."
Während sie mir die Sitten unseres Volkes erklärte, schlief ich
langsam ein. Meine Mutter hielt die ganze Nacht Wache an meinem Bett, damit
ich mich nicht alleingelassen fühlen sollte, wenn ich erwachte.
In der darauffolgenden Woche übte ich täglich jeweils nur wenige Minuten mit verschiedenen Gegnern kämpfen. Nach jeder Übung sprach ich mit meinem Vater oder meiner Mutter jede einzelne Bewegung durch und überlegte, was ich hätte besser machen können. Erst als von den blauen Flecken dieses ersten Kampfübungstages nichts mehr zu sehen war, wurde ein zweites mal ein ganzer Tag für Kampfübungen angesetzt. Diesmal war meine Mutter meine Gegnerin und mein Vater bereitete das Essen zu, tröstete mich und hielt nachts an meinem Bett Wache.
Die Kampfausbildung des Kriegervolkes beruhte auf extremer Unregelmäßigkeit. Tage, bei älteren Jungen und Mädchen Wochen, in denen sie bis zur Erschöpfung Kämpfen üben, wechselten mit Wochen oder Monaten, in denen der Körper sich erholen konnte. Es gab keine Vorwarnung. Irgendwann wurde man morgends geweckt und mußte den ganzen Tag kämpfen üben. Manchmal auch länger. In den Jahren, die ich im Kriegerdorf verbrachte, kam es immer wieder vor, daß ich abends vor Erschöpfung weinend ins Bett fiel und trotz der blauen Flecken am ganzen Körper nur deshalb einschlief, weil ich totmüde war. Oft kämpfte ich gegen mehrere Gegner, denn es wäre gefährlich gewesen, zwei gleichwertige Kämpferinnen oder Kämpfer gegeneinander bis zu Erschöpfung kämpfen zu lassen. Die Hiebe sind am Ende nicht mehr genau geziehlt. Das kann zu ernsthaften Verletzungen führen, wenn man, wie das beim Kriegervolk üblich war, mit scharfen Waffen übt. Auch für die Art der Kampfübungen galt das Prinzip der Unregelmäßigkeit. Mal hatten beide ein Schwert in der Hand, mal versuchte ein Krieger sich ohne Waffen gegen einen Schwertkämpfer zur Wehr zu setzen, mal hatten beide Dolche. Es gab auch Kämpfe, wo am Anfang beide Kämpfer unbewaffnet in einem reichlich mit Waffen ausgestatteten Raum gegenübersaßen und auf ein Kommando begannen zu kämpfen - ob und wie sie sich an den Waffen bedienten, blieb ihnen selbst überlassen. Es wurde in der Kampfübungshalle oder im Freien, am hellen Tag, nachts im dunklen oder beim Licht einer Fackel auf ebenen oder unebenen Grund, zu Pferde oder kletternd auf den niedrigen Klippen nahe des Dorfes gekämpft. Ich lernte mit allen Waffen umgehen und ergänzte unsere Malzeiten zuhause von Zeit zu Zeit mit Jagdbeute von den Streifzügen, die wir Kinder zusammen mit ein oder zwei Erwachsenen unternahmen, damit wir Bogenschießen auf bewegliche Ziele lernten.
Die anderen, so schien es mir, setzten ihre ganze Findigkeit darein, mich immer wieder auf dem falschen Fuß zu erwischen. Manchmal glaubte ich allem, was die Erwachsenen sich an Übungen so einfallen ließen, gewachsen zu sein. Doch nach einiger Zeit, wenn ich nicht mehr damit rechnete, kam eine Kampfübung, die mich wieder an den Rand meiner Kräfte brachte. Manchmal kämpfte ich, bis ich vor Erschöpfung ohnmächtig zusammenbrach. Oft weinte ich am Ende vor Schmerzen und weil ich am Rande meiner Kräfte war. Das war nicht ungewöhnlich. Selbst die Erwachsenen konnte man immer wieder sehen, wie sie in Tränen aufgelöst, zitternd und kraftlos von einer Kampfübung nach Hause gebracht wurden. Auch bei ihnen hielt in der Nacht jemand Wache, um für sie dazusein, wenn sie sich nach Trost sehnten. Nein, wenngleich sorgfältig darauf geachtet wurde, daß niemand durch Kampfübungen Schaden erlitt, konnte sich kein Mensch an diese ständig wechselnden hohen Anforderungen gewöhnen. Doch mit der Zeit lernte ich, wenn ich vor Erschöpfung weinte und dennoch weiterkämpfen mußte, die Tränen, die Müdigkeit und Schmerzen nicht weiter zu beachten. Ich fand einen ruhigen friedlichen Ort in mir selbst, wo all diese Probleme nicht viel bedeuteten und konzentrierte mich auf die wesentlichen Dinge, wie beispielsweise den Kampf.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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