Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA7.

Streit

In der folgenden Woche hatte ich das Gefühl, nicht ein einziges Mal tief durchgeatmet zu haben, so viel hatte ich zu tun. Zuersteinmal war da Jorisch, mein treuer Schatten. Dann war ich irgendwie in die Position eines zusätzlichen Elternteils gerutscht, das den Kindern von Außerhalb für Fragen und als Hilfe zur Verfügung stand. Wie meist in solchen Situationen, setzten die Erwachsenen noch eins drauf, indem sie am Ende der Woche, als ich mich erschöpft und ausgelaugt fühlte, eine überlange Kampfübung ansetzten. Schara nahm sich die Nacht nach meiner Übung frei, um bei mir Wache halten zu können. Am nächsten Morgen kam Hodan zu mir und fragte:
"Du warst gestern ja vollkommen in Tränen aufgelöst. Ist etwas Schlimmes passiert?"
Ich wunderte mich zuerst - dann wurde mir klar, daß die Kinder des Bauerndorfes nur weinten, wenn etwas geschehen war, was sie schlimm fanden.
"Nein. Ich hatte nur eine SEHR lange Kampfübung gehabt. Danach war ich so erschöpft, daß ich wegen nichts und wieder nichts angefangen habe zu weinen." erklärte ich lächelnd.
Hodan musterte mich eindringlich. Er schien beunruhigt.
"Wie lange hast du kämpfen geübt, daß dich das in einen solchen Zustand versetzen konnte?" fragte er mich ernst.
"Ich habe vorgestern abend bei Sonnenuntergang begonnen und bis gestern abend um etwa dieselbe Zeit mit verschiedenen Partnern geübt." antwortete ich.
Hodan konnte nicht fassen, was ich sagte, schwieg lange, suchte in meinem Gesicht nach irgendetwas, schien es nicht zu finden und fragte schließlich beunruhigt:
"Machst du so etwas öfter?"
"Es gehört zur Ausbildung." antwortete ich mein Tonfall verriet, wie selbstverständlich ich das fand.
"Das ist grausam! Ich lasse nicht zu, daß ihr mit meinen Leuten so etwas macht!" sagte er entschieden, drehte um und ging.
Ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte, und rief meine Mutter zu Hilfe. Mit wenigen Worten erzählte ich ihr, was vorgefallen war.

Sie lief sofort, zutiefst beunruhigt zu den Kindern von Außerhalb. Ich und Jorisch folgten ihr. Die Kinder waren dabei, ihre alten Lumpen anzuziehen.
"Was macht ihr denn?" fragte meine Mutter.
"Wir gehen." antwortete Hodan.
Sein Gesicht war finster und verschlossen.
"Eine solche Entscheidung sollte man nicht von einem Augenblick auf den anderen treffen. Außerdem könnt ihr die Sachen behalten, die wir euch gegeben haben. Sie sind ein Geschenk."
Die Kinder von Außerhalb sahen verwirrt aus. Was hatten sie erwartet?
"Ihr solltet zumindest bis zur Versammlung bleiben und uns verraten, warum ihr gehen wollt. Haben wir etwas falsch gemacht?" fragte ich.
Das schien ihre Verwirrung noch zu vergrößern.
"Hast du nicht verstanden? Solche Kampfübungen sind grausam. Das machen wir nicht mit!" sagte Hodan scharf und ablehnend.
"Ich finde, wenn ihr etwas gegen unsere Ausbildungsmethoden habt, haben wir ein Recht zu erfahren warum. Außerdem solltet ihr kein Urteil fällen, bevor ihr gefragt habt, weshalb wir so ausbilden." entgegnete meine Mutter im scharfen Ton.
"Ach und warum macht ihr dann so etwas?" fragte Hodan.
"Kommt heute ans Versammlungsfeuer und bringt den Willen mit, alles auszusprechen, das euch an uns stört. Ihr habt uns auch noch andere Dinge verschwiegen, über die ihr euch geärgert habt." fuhr meine Mutter wütend fort.
"Warum sollten wir?" fragte Hodan ablehnend.
"Ihr habt uns nie eine Chance gegeben dazuzulernen, weil ihr uns nicht verraten habt, was wir falsch gemacht haben. Erwartet ihr von uns, daß wir eure Gedanken lesen?"
Ich habe meine Mutter selten so zornig erlebt.
"Es ist offensichtlich, was uns stören muß."
"Das ist vielleicht für jeden offensichtlich, der von Außerhalb kommt. Hier ist eine andere Welt. Woher soll ich wissen, was euch ärgert? Schon bei Bauernkindern fällt mir das schwer. Und mit dem Bauernvolk leben wir Krieger Seite an Seite. Die Menschen von Außerhalb kennen wir nicht einmal! Nur ihr acht seit über die Grenze unserer kleinen Welt gekommen und erwartet wie selbstverständlich von mir, daß ich eure Gedanken errate. Das kann ich nicht! Wo sollte ich das gelernt haben?" fuhr meine Mutter leidenschaftlich fort.
Irgendetwas an ihren Worten schien Hodans kalte Ablehnung durchbrochen zu haben, jedenfalls sagte er nach einer Weile des verdrossenen Schweigens:
"Gut. Ich komme heute abend. Aber macht euch auf einiges gefaßt."
"Gut." sagten meine Mutter und ich fast gleichzeitig.
In diesem Augenblick kam Schara herein und fragte, was los sei. Niemand antwortete. Schara sah von einem zum anderen und wiederholte die Frage verunsichert.
"Komm heute abend zum Versammlungsfeuer. Da reden wir darüber." antwortete Hodan.
Schara sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. Ihr Baby fing an zu schreien. Sie drückte es an sich und fragte Hodan leise, ob er wirklich nicht bereit sei, mit ihr zu reden. Hodan schien nachdenklich zu werden und schickte uns hinaus. Wir gehorchten, weil alles andere noch mehr Chaos hervorgerufen hätte.

Als das Dorf am Abend um das Feuer versammelt war, trug Hodan eine derart lange Liste an Beschwerden vor, daß ich nur staunen konnte. Er redete mehrere Stunden und ließ sich nicht unterbrechen, um die einzelnen Punkte durchsprechen zu können. Also warteten wir, bis er fertig war und baten ihn, noch einmal mit dem ersten Punkt zu beginnen. Schließlich mußten wir eine Lösung finden, damit es in Zukunft nicht wieder zu denselben Problemen kam.
"Habt ihr mir denn nicht zugehört?" fragte Hodan empört.
"Selbstverständlich haben wir zugehört", antwortete meine Mutter beschwichtigend, "Aber ich muß zugeben, daß ich nicht verstanden habe, warum du dich über all das ärgerst. Wir haben getan, was wir für richtig und freundlich hielten. Kannst du es uns erklären, wir gemeinsam überlegen können, wie wir es in Zukunft besser machen. Also, was war noch einmal das erste?"
"Ihr redet nicht mit uns." beschwerte er sich.
"Wie kommst du denn darauf? Natürlich reden wir mit euch!" rief ich.
Hodan bestand auf seiner Beschwerde, und es dauerte, bis wir ihn so weit hatten, daß er uns an einem Beispiel erklärte, was er meinte. Hodan erzählte eine kleine, alltägliche Begebenheit, wo Schjerra sich genau so verhalten hatte, wie wir es für höflich, normal und richtig hielten. Es ging ums Wasserholen. Einer der Jungen von Außerhalb war an der Quelle und wusch dort einen Topf aus. Schjerra kam mit einer Flasche. Sie überblickte kurz die Situation und kam zu dem Ergebnis, daß sie Wasser holen konnte, ohne dabei den Jungen in seiner Arbeit zu behindern. Also füllte sie wortlos ihre Flasche auf und ging. Nach einigem Hin und Her bekamen wir heraus, daß Hodan der Meinung war, Schjerra hätte den Jungen um Erlaubnis fragen müssen, da er zuerst dagewesen sei. Irgendjemand meinte erstaunt, daß das doch vollkommen unnötige Worte seien. Eine Weile ging die Diskussion fruchtlos hin und her, bis Jorisch sagte:
"In den ersten Tagen hier oben im Kriegerdorf habe ich gedacht: Ihr mögt mich alle nicht und redet deshalb nicht mit mir. Jetzt weiß ich, daß ihr nur redet, wenn es notwendig ist, damit jeder weiß, was er zu tun hat und warum."
Wir dachten eine Weile schweigend über seine Worte nach, dann sagte ich:
"Hodan, es ist nicht gut, wenn wir reden, wenn man etwas auch ohne Worte klären kann. Um beim Wasserholen zu bleiben: Hätte Schjerra gefragt, ob sie Wasser schöpfen darf, hätten Frage und Antwort etwas Zeit gekostet. Dann hättest auch du etwas später ans Wasser gekonnt. In diesem Beispiel ist das natürlich nicht wichtig. Es ist nur ein Augenblick. Aber wir sind keine Wasserholer sondern Krieger. Wenn wir in der Schlacht reden, statt zu tun, was notwendig ist, kann dieser Augenblick Leben kosten oder den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage bedeuten. Deshalb reden wir nicht, während wir handeln, sondern klären während der abendlichen Versammlungen, wer wann was tun muß."
Dem Blick nach zu urteilen, den Hodan mir zuwarf, fand er diese Begründung sehr merkwürdig. Aber er ging zum nächsten Punkt über. Wir redeten stundenlang. Die Kinder von Außerhalb hatten sich über viele Kleinigkeiten oder Mißverständnisse geärgert, die mit wenigen Worten geklärt und aus dem Weg geräumt waren. Doch wir hatten auch schwerwiegende Fehler gemacht. Kriegerkinder hatten die Kinder von Außerhalb geärgert, weil sie sie nicht verstanden und keiner der Erwachsenen hatte das unterbunden. Wenn man bedenkt, wieviel Arbeit ich in dieser Woche hatte, ist nicht verwunderlich, daß ich davon nichts gesehen oder gehört hatte. Aber das macht es nicht besser. Ich machte den Vorschlag, daß wir in der nächsten Zeit zu Beginn jeder Abendversammlung zuerst die Kinder von Außerhalb fragen sollten, ob es Probleme gegeben hätte. Das sei wichtig, damit sich nicht wieder so viel Groll ansammeln könne.

Die Kinder von außerhalb setzten Fett und Muskeln an und schienen sich einzugewöhnen. Es kam wie aus heiterem Himmel, daß Hodan einige Wochen später am Versammlungsfeuer sagte, daß er mit sechs der acht Kinder von Außerhalb unser Dorf verlassen wolle. Doch sie hatten es sich gut überlegt und waren nicht zum Bleiben zu überreden. Wir gaben ihnen Vorräte für eine Woche mit. Nur das Mädchen und der kleine Horisch blieben bei uns.

Kersti


FA8. Kersti: Fortsetzung: Eine Strafe
FA6. Kersti: Voriges: Die fremden Kinder
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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