Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA11.

Erwachsen

Als ich eines Tages wieder aus dem Bauerndorf nach Hause zurückkehrte, verabschiedete ich mich mit den Worten von Koresch:
"Bald bin ich erwachsen. Dann werde ich weniger Zeit haben, dich zu besuchen."
"Noch weniger?" fragte Koresch ungläubig.
"Wir sind zu wenige," antwortete ich, "viel zu wenige."
"Ist es wirklich so ernst?" fragte er erstaunt.
"Ja. Das Dorf wird bei jedem Kampf kleiner." antwortete ich.
Koresch betrachtete mich nachdenklich und sagte dann:
"Manchmal habe ich das Gefühl, du bist viel älter als ich."
Ich lächelte.
"Diesem Gefühl würde ich nicht trauen. Tschüß Koresch."
"Tschüß." antwortete er.

Auf dem Weg begegneten mir drei bewaffnete fremde Männer. Normalerweise hätte sie ein Krieger begleiten müssen. Als ich sie fragte, wer sie wären, griffen sie an. Ich war kleiner und schwächer, aber auch beweglicher und weit besser ausgebildet als sie. Ich hatte sie schnell besiegt. Nachher war ich ernsthaft besorgt: Es mußte schlimm stehen, wenn drei Fremde das Kriegerdorf ungehindert durchqueren oder umgehen konnten. Eigentlich gehörte ich zu den Kindern ins Felsennest. Doch dazu war es zu spät.

Ich holte meinen Bogen aus dem Dorf und schlich zu dem Versteck, das ich mir für solche Kämpfe gewählt hatte. Ich durfte noch nicht hinunter ins Kampfgetümmel, da ich meine volle Kraft und Größe noch nicht annähernd erreicht hatte. Die Älteren gingen dabei ein geringeres Risiko ein. Es waren mehr als doppelt so viele wie wir Krieger. Ich erschoß einige Feinde, noch bevor sie in den Kampf eingreifen konnten. Danach zielte ich auf jeden, bei dem ich keine Angst haben mußte, einen der Unseren stattdessen zu treffen. Dennoch drangen sie bis zum Dorf vor. Als sie aus meiner Pfeilschußweite kamen, rannte ich hinunter, zog mein Schwert und griff die Fremden von hinten an. Ich konnte gerade noch helfen, die letzten drei zu erledigen.

Einen nahmen wir nur gefangen.
"Rundon, schneid du." sagte der Anführer, der neben dem Gefangenen am Boden kniete.
Er war verletzt, sah leichenblaß und erschöpft aus. Ich schnitt dem Gefangenen das Ohr ab und heftete es an die Tür der Versammlungshalle, wo schon viele Ohren besiegter Feinde hingen. Dann sagte ihm der Anführer:
"Geh zu deinen Leuten und erzähl ihnen, was hier geschehen ist. Selbst wenn ihr mit noch einmal so vielen wiederkommt, werdet ihr uns nicht besiegen."
Ich löste die Fesseln. Benommen richtete der Gefangene sich auf und griff nach seinem Ohr. Er sah sich um. Etwa die Hälfte der Erwachsenen des Dorfes waren um uns versammelt, die meisten unverletzt. Unsicher sah er mich an, dann verließ er durch den schweigenden Spalier der Krieger und Kriegerinnen das Dorf.
"Wo sind die anderen?" fragte ich.
"Im Bauerndorf. Drei sind durchgebrochen." antwortete eine ältere Kriegerin.
"Die sind tot. Sie sind mir begegnet." sagte ich.

Ich kniete neben dem Anführer nieder und sagte besorgt:
"Toris..."
Toris lächelte schwach und antwortete leise:
"Wir haben uns doch irgendwie schon verabschiedet."
Mir kamen die Tränen.
Die Heilerin kam. Toris verlangte:
"Ich will in der Versammlungshalle liegen, wo ich alle noch einmal sehen kann."
"Nein, da hast du nicht genug Ruhe, um gesund zu werden." widersprach die Heilerin.
"Ich sterbe sowieso. " sagte Toris ernst.
"Aber du..." setzte die Heilerin ein.
"Die Wunden sind tödlich." sagte Toris fest.
Die Heilerin sah ihn an. Toris erwiderte ihren Blick ruhig, bis sie die Augen resigniert abwendete und den Kriegern, die neben uns standen befahl, Toris in die Versammlungshalle zu bringen. Ich folgte ihnen und hielt Toris Hand, während die Heilerin arbeitete. Toris weinte während der Behandlung vor Schmerzen. Alles scheint ja viel mehr weh zu tun, wenn man statt zu kämpfen stillhalten und sich möglichst entspannen muß. Ich sah, daß der Gesichtsausdruck der Heilerin immer verschlossener und ernster wurde. Schließlich packte sie ihre Sachen zusammen und sagte seltsam barsch:
"Mehr kann ich nicht tun."
Toris öffnete kurz die Augen und lächelte ihr kaum merklich zu. Er sah noch erschöpfter und blasser aus als vorher, aber er wirkte auch gelöst und mit sich und der Welt in Frieden.
"Ich komme gleich zurück." sagte ich zu Toris.
Die Heilerin machte mir Sorgen. Ich folgte ihr hinaus und legte meine Hand auf ihre Schultern. Leise fragte ich:
"Hatte Toris recht?"
"Womit?" fragte sie verständnislos.
"Daß er stirbt."
"Ja." sagte die Heilerin und begann zu weinen.
Ich legte meinen Arm um sie und fragte:
"Hast du noch Arbeit?"
Ich glaubte nicht daran. Am ersten Tag versorgt die Heilerin nur schwere Wunden. Den Rest machen wir selber. Sonst würden die Verletzten beim Warten unnötig viel Blut verlieren. Erst an den folgenden Tagen kümmert sich die Heilerin um alle Verletzungen.
"Nein." antwortete die Heilerin unter Tränen.
"Dann komm." sagte ich und führte sie zu einer Bank.
"Warum muß Toris sterben." protestierte sie.
"Er ist alt. Er kann nicht mehr so gut kämpfen wie früher. Er hat mir schon vor ein paar Tagen gesagt, daß er den nächsten Kampf vermutlich nicht überleben wird." sagte ich.
"Es ist so schrecklich", schluchzte sie, "Ihr Krieger sterbt bevor ihr richtig erwachsen seid. Und dann diese Verletzungen!"
"Das ist Schicksal." sagte ich sanft.
"Schicksal, Schicksal, ihr Krieger mit eurer verdammten Schicksalsergebenheit! Ich will nicht mitansehen wie ihr alle erschlagen werdet!" schimpfte sie.
"Helia, wir leben in einer Welt, in der es verdammt schwer ist, auch nur zu überleben. Wenn wir darüberhinaus noch irgendetwas Gutes erreichen wollen, dann dürfen wir unsere Kräfte nicht darauf verschwenden, uns über Dinge aufzuregen, die wir nicht ändern können. Wir müssen uns auf das konzentrieren, wo wir etwas erreichen können. Deshalb bist du doch Heilerin geworden, oder? Und täusch dich nicht, deine Arbeit ist uns sehr wichtig."
"Ach Rundon, du bist immer so verdammt vernünftig."
"Nein, Helia, jeder ist einmal unvernünftig. Denk an den Bauern, dem ich den Arm gebrochen habe."
"Das war ein Unfall."
"Ich hätte es vermeiden können. Ein Krieger sollte wissen, wie gut er andere einschätzen kann."
Die Heilerin sah mich nachdenklich an. Sie schien mir widersprechen zu wollen, ließ es aber doch. Schließlich sagte sie:
"Ich muß heim zu meiner Familie, sonst glauben sie, daß mir etwas passiert ist."
Dann stand sie auf und ging. Sie wirkte viel entspannter als vorher.

Ich kehrte zurück zu Toris. Einige Krieger verzierten die Tür des Versammlungshauses schweigend mit den Ohren gefallener und inzwischen begrabener Feinde. Wir verstanden diese Fremden nicht, die offensichtlich kamen, weil sie sich totschlagen lassen wollten.

Als die Kinder kamen, waren wir Erwachsenen schon ums Feuer versammelt. Jorisch stürmte auf mich zu und schluchzte:
"Ich dachte du bist tot."
Lächelnd nahm ich ihn in die Arme und antwortete flüsternd:
"Nein, ich bin nur ein bißchen zu spät gekommen um noch ins Felsennest zu gehen. Ich habe mitgekämpft"
Toris, der Anführer überließ es meiner Mutter, die Toten und Verletzten aufzuzählen. Acht Krieger und vier Kriegerinnen fehlten. Die meisten waren tot. Meine Mutter beendete die Aufzählung mit den Worten:
"Toris wird an seinen Verletzungen sterben."
In der Runde die eng aneinandergekuschelt um das Feuer saß, wurden wieder einmal die Familiengruppen neu eingeteilt. Man hörte leises Weinen. Irgendwann in einer Pause sagte ich:
"Schara, ich würde gerne zu deiner Familie gehören."
Schara sah mich erstaunt an und begann dann zu strahlen.
"Du bist mir willkommen." antwortete sie.
Ich lächelte voll Freude. Damit waren wir offiziell ein Paar. Obwohl es streng genommen noch drei Tage dauern würde, bis ich eine solche Entscheidung treffen durfte, erhob niemand Einwände.

Ganz zum Schluß fragte Jadra, meine Mutter:
"Und wer wird uns jetzt führen?"
Einen Augenblick herrschte Schweigen, ehe eine Kriegerin schließlich sagte:
"Jadra."
"Jadra." wiederholte nach und nach jeder Erwachsene und jedes Kind, nur ein dreijähriges Mädchen sagte: "Mama."
Wir sahen uns teils genervt, teil schmunzelnd an. Am Versammlungfeuer durfte auch die Stimme des kleinsten Kindes nicht übergangen werden.
"Warum willst du denn, daß deine Mama Anführerin wird?" fragte ich.
"Mama ist lieb", antwortete sie.
"Willst du denn Anführerin werden", fragte ich die Mutter.
"Nein. Ich glaube Jadra kann das viel besser als ich", antwortete sie.
"Na gut", antwortete das Mädchen, "wenn du das sagst, dann darf auch Jadra Anführerin werden."
Ich atmete auf, denn der Beschluß mußte einstimmig gefällt werden. Kinder sind manchmal schwer zu überzeugen.

"Toris, du hast ja noch gar nichts dazu gesagt!" fiel mir plötzlich auf.
Toris öffnete die Augen, lächelte mir zu und meinte:
"Solange ich lebe, werdet ihr mit euren Problemen doch zu mir kommen. Außerdem habt ihr die logische Wahl getroffen."
"Das stimmt", sagte ich, "wer nicht dich um Rat fragt, fragt meine Mutter."
"Oder dich, Rundon. Die Kinder fragen dich." ergänzte Toris.
Fassungslos starrte ich ihn an. Das war mir noch gar nicht aufgefallen. Aber er hatte recht. Sie fragten mich. Oder Schara. Wieso gerade mich?
Als ich am nächsten Tag mit Toris allein war, sagte er mir:
"Weißt du, Rundon, ich habe mir immer gewünscht, dich in einem echten Kampf zu erleben, bevor ich sterbe."
"Und?" fragte ich.
"Du kämpfst, wie ich gedacht habe. Du macht Dinge, für die ich jedem anderen in deinem Alter tadeln würde, weil sie zu gefährlich sind, doch du hast die nötigen Fähigkeiten. Ich weiß jetzt, daß du alt werden wirst."
Ich zweifelte daran. Ein schlechter Krieger ist bald ein toter Krieger, doch auch ein guter Krieger kann Pech haben.
"Rundon, ich hatte Angst, daß du an dem zerbrichst, was wir dir zugemutet haben, als wir dir als zehnjährigem Jorisch zugeteilt haben. Du warst so jung und so verantwortungsbewußt. Wir haben dir zu wenig von deiner Kindheit gelassen. Doch danach bist du immer eingesprungen, wenn eine Erwachsener für eine Aufgabe fehlte. Und dann hattest du auch noch das Pech, daß du Koresch den Arm gebrochen hast. Doch du bist an jeder Erfahrung gewachsen und hast trotz allem deine Lebensfreude nicht verloren. Jetzt mache ich mir um Rikon mehr Sorgen als um dich."
Ich verstand nicht wieso. Mit Rikon war doch alles in Ordnung, oder?

Kersti


FA12. Kersti: Fortsetzung: Der lange Weg / Der Bote
FA10. Kersti: Voriges: Kampfdenken
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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