Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA20.

Zu wenige

"Was ist geschehen?" fragte der Arzt.
"Nichts Großartiges. Es gab zu viele kleine Kämpfe, bei denen vielleicht ein Krieger verletzt oder getötet wurde. Alle paar Tage kam eine Bande marodierender verarmter Bauern oder Raubritter, wurde besiegt. Wir haben nicht genug Kinder, um die Fehlenden zu ersetzen. Schon seit Jahrzehnten nicht. Dabei war ich zwölf, als ich meine Älteste zur Welt brachte." erklärte Schara.
"Deine Älteste?" fragte ich, "Hast du noch ein Kind?"
"Ja. Wir haben einen Sohn." antwortete sie.
Ich freute mich.

"Seid ihr ein Paar? Nein, das kann nicht sein. Rundon war doch ein Kind." fragte der Arzt.
"Wir hatten gerade geheiratet, wenige Tage bevor ich gegangen bin." sagte ich.
"Und das andere Kind?"
"Der Vater ist tot." erklärte ich.
"Mit wem lebst du zusammen?" fragte ich Schara.
"Rikon.", antwortete sie, "Es wird ihm nicht gefallen, daß du zurückgekommen bist. Er war vorher schon eifersüchtig. Er liebt mich und ich liebe dich."
Ich nickte. Daraus würde Ärger entstehen. Rikon ist nicht sehr vernünftig. Es würde ihm dennoch nichts anderes übrigbleiben, als sich damit abzufinden.
"Mein Gott, heiratet ihr so schnell wieder?" fragte der Arzt fassungslos.
"Unsere Gesetze verlangen, daß wir noch an dem Tag, an dem jemand gefallen ist, beschließen wer jetzt die Aufgaben des zweiten Elternteils übernimmt. Sonst hätten wir zu viele Kinder, für die sich niemand wirklich verantwortlich fühlt. Außerdem kann ein Mensch alleine Kinder nicht richtig ausbilden." erklärte ich.
Der Arzt betrachtete den Armstumpf, wo meine Frau im Kampf die Hand verloren hatte. Ich hatte ihm schon vieles über unser Volk erzählt. Doch erst jetzt begriff er wirklich, wie unsere Realität aussah. Er schluckte.

Schara wandte sich an den Arzt:
"Ich muß mich für unser Volk bei dir entschuldigen, daß wir dir nicht erlauben können mit unseren Familien zu essen. Sie sind in einem geheimen Schlupfwinkel. Wir können es uns nicht leisten, einem Fremden seine Lage zu verraten. Es ist unser letzter Schutz. Wir werden dich hier im Wachhaus bewirten."
"Schon gut. Das reicht für mich." erwiderte er.
"Ich muß jetzt mit den Kindern hoch, meinen Leuten berichten, was ich in den letzten beiden Jahren gemacht habe. Ich werde dich heute Abend noch besuchen." sagte ich.

Ich lief den altvertrauten Weg zum Felsennest hinauf, und rief zu den Wachen hoch, daß sie die Strickleiter hinunterlassen sollten.
"Wer ist da?" fragte Rikon.
"Rundon." antwortete ich.
"Das kann nicht sein. Rundon ist tot." entgegnete er.
"Sehe ich so tot aus?" fragte ich herausfordernd.
"Wenn er noch leben würde, wäre er schon längst zurückgekehrt!"
"Mach dich nicht lächerlich, Rikon. Du kennst mich doch." rief ich.
"Laß sofort die Leiter herunter!" rief Schjerra hinauf.
Die anderen Kinder hinter mir murrten. Langsam und umständlich bequemte Rikon sich, die Leiter zu holen und auseinanderzurollen. Er brauchte länger dazu, als wir, um zu ihm hochzuklettern. Dann rollte ich sie innerhalb von drei Sekunden wieder zusammen und verstaute sie auf ihrem Platz.

"Seid ihrs wirklich?" fragte eine junge Frau - ich brauchte einige Sekunden, um sie als Karim zu erkennen. Ihr Gesicht war sehr ernst und hager geworden.
"Ja, Karim. Aber nicht alle. Elara ist tot."
Sie nickte sachlich. Sie hatte das Bauernmädchen nicht gekannt.
"Und die anderen leben alle noch?"
"Ja."
"Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt."
Ein glückliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie hatten uns also alle schon längst aufgegeben. Ein Glück, daß ich nicht so schnell aufgebe. Sonst wären wir jetzt wirklich tot.
"Kommt. Ihr müßt uns alles erzählen. Wir feiern ein Freudenfest."
Karim hängte sich zwischen mir und Schjerra ein. Die anderen umgaben uns in einer dichten Traube. Koresch ging voraus und sah sich um. Als Bauernjunge hatte er die Höhlen noch nicht kennengelernt.

Im Kaminraum saßen Krieger um ein Feuer versammelt. Ich grüßte verhalten.
"Wer ist das?" fragte ein Junge.
"Rundon." antwortete ich.
Plötzlich hatten wir die volle Aufmerksamkeit des Kreises. Meine Mutter sah mich an.
"Sie sind es wirklich." sagte sie leise, tonlos.
Ich erwiderte ihren Blick. Sie hatte weiße Haare bekommen. Langsam verbreitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
"Willkommen zuhause, Kinder."
Sie stand auf und umarmte nacheinander jeden aus unserer Gruppe.
"Ihr Bauernkinder solltet sofort zu euren Eltern gehen und berichten, was ihr in der Zwischenzeit erlebt habt. Sie werden euch sehen wollen, weil ihr so lange weg wart. Rundon, du berichtest uns."
"Sind das alle Krieger?" fragte ich.
"Schara, Jorim und Tarej haben Wache. Die kleineren Kinder schlafen schon. Sonst sind wir alle, die noch übrig sind." antwortete meine Mutter.
Ich ging von Frau zu Frau - Männer gab es wenige, schaute ihnen prüfend ins Gesicht und begrüßte jeden mit einer Umarmung. Sie sahen entmutigt aus. Sie glaubten nicht mehr an sich. Schlecht.

"Gut dann will ich euch erzählen, was wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben..." begann ich.
Ich erzählte von meinem Kampf mit dem Heerführer, der dazu führte, daß ich der Garde zugeteilt wurde. Vom Gardeoffizier, der mich zwar in vielen Dingen unterstützte, aber mich auch anderthalb Jahre lang daran hinderte, mit den Kindern zu fliehen. Von Elaras Tod durch Vergewaltigung und wie Schjerra dafür bestraft wurde, daß sie es nicht zugelassen hat, daß ein Mann mit ihr dasselbe tat. Vor allem aber sagte ich: Seht, die Lage war aussichtslos - aber wir sind zurückgekehrt. Der Arzt war schon längst eingeschlafen, als ich zu ihm in das leerstehende Haus zurückkehrte.

"Rundon? Was machst du denn hier?"
Verschlafen öffnete ich die Augen. Wo war ich? Ach ja, ich hatte mich neben dem Arzt schlafen gelegt.
"Schlafen. Sieht man das nicht?"
Er lachte.
"Aber warum schläft du hier und nicht bei deiner Familie?"
"Ich hatte dir versprochen, daß ich hierherkomme und mit dir rede, sobald ich mit dem Bericht fertig bin. Du hast schon geschlafen. Also reden wir jetzt."
"Und wie war's?"
"Schlecht. Die Krieger sind entmutigt. Wie das Heer, als wir flohen." antwortete ich.
"Aber das Problem kriegst du in den Griff, wie?" fragte er.
"Ja. Und ich weiß auch schon wie." sagte ich.
"Ich weiß die Lösung für euer Kinderproblem." sagte er.
"Ja? Sag!"
"Nein. Warte einfach. Ich reise heute ab und bereite alles vor. Wenn ich recht habe, werdet ihr bald genug Kinder haben."

Sobald der Arzt das leerstehende Kriegerdorf verlassen hatte, kehrte ich zurück ins Felsennest und ging hinunter in die Höhlen, die das Bauernvolk bewohnte. Auch die Bauern sahen entmutigt aus. Ich sagte Koresch, daß er alle Bauernkinder zusammentrommeln sollte, die mit uns beiden gereist waren. Ich selbst holte die Kriegerkinder und wir trafen uns auf einer einsamen Wiese draußen in den Bergen. Zu meiner Freude trugen auch die Bauernkinder noch ihre Schwerter. Ja, die letzten beiden Jahre hatten uns zu einer verschworenen kleinen Gemeinschaft zusammengeschweißt.
"Ihr habt gesehen wie es hier zugeht. Die Dörfer sind nicht mehr, was sie vor zwei Jahren waren. Die Krieger haben die Wache aufgegeben. Wir könnten uns damit abfinden - oder aber wir können alle Krieger werden, und unsere Dörfer wieder zu dem machen, was wir einmal waren. Seid ihr dazu bereit?"
"Ja. Ich bin bereit." sagte Koresch.
"Ja." sagten auch die anderen, jeder einzeln.
Wir waren keine große Verstärkung für die Krieger. Aber meiner Berechnung nach waren wir genug, daß es funktionieren konnte.

Krieger- und Bauerndorf von unserem Plan zu überzeugen dauerte länger. Im Endeffekt haben wir sie beinahe erpreßt, indem wir sagten:
"Ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber wir wohnen von heute ab im Kriegerdorf."
Keiner wollte uns dort ohne erwachsenen Schutz schlafen lassen. Also war das Kriegerdorf wieder bewohnt. Während im Kriegerdorf wieder der normale Alltag sich einspielte, gingen wir neunzehn die Räuber jagen, die sich in unserem Tal eingenistet hatten, als der Weg nicht bewacht war. Nach vier Wochen hatten wir den letzten gefangen und fortgejagt.

Kersti


FA21. Kersti: Fortsetzung: Woher Kinder kommen
FA19. Kersti: Voriges: Heimkehr
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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