Zwei Monate nach dem Attentat besuchte ich Gared wie jeden Abend in seinem
Haus. Nachdem wir uns im Wohnzimmer niedergelassen und die erste Tasse Tee
gemeinsam getrunken hatten, eröffnete ich das Gespräch mit den
Worten:
"Langsam weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Ich weiß,
daß sie es besser können, aber alle Männer bringen nur die
halbe Leistung, die sie früher gebracht haben. Außer denen,
über die du gerade Aufsicht führst. Und wir wissen, woran es
liegt. Sie wollen dich, nicht mich als Gardehauptmann. Kariv hat es mir
gesagt."
"Kariv hat es dir ins Gesicht gesagt. Das war ehrlich und
anständig. Und er tut seine Arbeit, wie er sie immer getan hat,
wenn nicht besser. Er sollte nicht bestraft werden. Die anderen sagen es
hinter deinem Rücken. Schalar, Ilon und Gerid sind die schlimmsten
Unruhestifter. Gerid ist der Rädelsführer."
Ich schwieg und fragte mich, wie er das herausbekommen hatte. Vielleicht
war es für ihn einfacher. Schließlich ging es ja nicht gegen
ihn. Mit ihm redeten die Männer, mit mir nicht, nicht wirklich
jedenfalls. Sie bestätigten meine Befehle, weil sie es mußten
- und das wars.
"Ich gebe dir den Ratschlag nicht gerne, weil es nicht gut für die
Disziplin ist, wenn der Hauptmann zu solchen Mitteln greift. Aber langsam
fällt mir nichts anderes mehr ein. Wenn Gerid dir das nächste
mal irgendwie quer kommt, forderst du ihn zum Kampf. Mit Holzschwertern
oder - nein mit echten Schwertern. Du bist gut genug, daß er dich
nicht verletzen wird. Und dann verprügelst du ihn mit der flachen
Klinge nach Strich und Faden. Sollte das nicht reichen, nimmst du dir nach
ein paar Tagen die anderen beiden vor. Die Leute werden wissen, wofür
die drei bestraft werden, auch wenn du es nicht sagst."
Am Morgen machte ich die Runde um den Hof und befragte sie Wachen - es waren nicht viele - aber zumindest an jedem Tor mußten immer zwei stehen - damit einer bleiben konnte, wenn der andere unerwartete Gäste ins Haus begleitete.
Ich begrüßte sie und fragte, ob während der Nacht etwas Unerwartetes vorgefallen war. Es war wie immer. Eigentlich hätten sie mir unaufgefordert alles erzählen sollen, was wichtig sein könnte. Besser zu viel als zu wenig - und statt dessen mußte ich ihnen die Würmer aus der Nase ziehen. Wenn Gared mit ihnen sprach, erzählten sie es ihm dann, so daß ich abends dann immer wieder erfuhr, daß ich nicht alles aus ihnen herausbekommen hatte, was ich hätte wissen müssen.
Am Haupttor war Gerid eingeteilt, mit Kainer. Ich begrüßte sie
wie immer und fragte, ob etwas besonderes vorgefallen sei.
"Nein, nicht wirklich."
"Und was war das nicht wirkliche?" fragte ich zurück.
"Nichts Besonderes." antwortete Gerid.
"Gerid ich will nicht wissen, was es alles nicht war. Ich will wissen
was es war." sagte ich und an Gerids Gesicht konnte ich ablesen,
daß er bemerkt hatte, daß irgendetwas anders war als sonst.
"Eigentlich ist es nicht von Bedeutung."
"Gerid, es reicht. Du hast lange genug gegen mich gehetzt. In einer
halben Stunde ist Wachablösung. Dann ziehst du dich um und in einer
Stunde erwarte ich dich mit scharfen Schwertern zum Duell in der
Übungshalle." sagte ich.
"Mit scharfen Schwertern?" fragte Gerid fassungslos.
"Mit scharfen Schwertern und auf Leben und Tod. Das heißt wenn du
gewinnst, hast du dein Ziel erreicht. Ich fürchte nur, dann wird dich
Gared entlassen. Er hat etwas gegen Unruhestifter." sagte ich mit
einem leichten Lächeln.
"Aber..."
Gerid war bei dieser Vorstellung schneeweiß geworden und
überlegte offensichtlich, ob es einen Ausweg gäbe. Wir beide
wußten, daß ich der bessere Kämpfer war. Das war zwar
keine Garantie, daß ich den Kampf überlebe. - Oder zumindest
Gerid besiege. Bei einem Kampf kann viel schiefgehen. Aber im Gegensatz zu
mir hatte Gerid schreckliche Angst vor dem Tod. Und ich hatte ihm ja nicht
verraten, daß ich ihn nur verprügeln wollte. Ich sah ihm ruhig
in die Augen, starrte ihn regelrecht nieder, während er nicht
wußte wo er hinschauen sollte. Kainer starrte mich fassungslos an.
"In einer Stunde sehen wir uns in der Halle." wiederholte ich und
ging.
Gerid kam. Wäre er nicht gekommen, hätte er seine Ehre verloren
und das Land verlassen müssen. Er wäre von allen als Feigling
verachtet worden. Ich lächelte Gerid zu und fragte ihn:
"Bist du bereit, der Ehre genüge zu tun?"
"Ja." antwortete er, obwohl er gar nicht so aussah, als würde
er selber das glauben.
"Gut. Dann tritt in den Kreis." antwortete ich.
Der Kreis war in die Fliesen des Bodens eingefügt. Ein kunstvolles Muster, das aber nur einem Zweck diente: Das Kampffeld für Duelle festzulegen. Nicht jedes Duell wird auf Leben und Tod geführt. Nicht jedes geht um ein ernstes Thema. Meist ist es nur ein Freundschaftskampf mit stumpfen Waffen, der um irgendeine Kleinigkeit geht, mehr aus Spaß am Kämpfen als alles andere geführt. Diesmal war es aber toternst - zumindest von Gerids Seite.
Am Anfang meiner Kadettenzeit war ich ein sehr schlechter Schüler gewesen. Ich hatte zu viele Bilder vor meinem inneren Auge, was Kampf eigentlich sein sollte, um mich auf die langweiligen Schlagübungen wirklich konzentrieren zu können. Und meine Frustration darüber war wohl die Ursache für meine vielen Streiche. Und nach zwei Jahren regelmäßigen Trainings - jeden Tag vier mal zwei Stunden - schlug es plötzlich um und ich war von einem Tag auf den anderen besser als die meisten Gleichaltrigen. Irgendwie lag das wohl daran, daß es mir endlich gelungen war, die inneren Bilder mit der äußeren Realität in Einklang zu bringen. Und jetzt bin ich der beste Kämpfer der Garde. Glaube ich zumindest. Bei Tanis bin ich mir nicht so sicher, ob er vielleicht mir gewachsen sein könnte. Gerid jedenfalls war eher mittelmäßig. Er hatte keine Chance.
Wir beiden traten in den Kreis und standen uns schweigend gegenüber. Gerid sah mich an und versuchte seine panische Angst unter Kontrolle zu bekommen. Ich wartete. Als es ihm einigermaßen gelungen war, änderte er leicht seine Stellung - und ihm wurde plötzlich bewußt, daß ich noch gar nichts getan hatte. Ich sah Gerid schweigend an und erwartete seinen ersten Angriff. Es verwirrte ihn sichtlich, daß ich ihm bei einem ernsthaften Kampf alle Vorteile ließ. Damit der Kampf die psychologische Wirkung erzielte, die ich erreichen wollte, mußte ich das tun.
Innerlich ruhig und körperlich vollkommen entspannt stand ich ihm gegenüber. Ich spürte jedes Gefühl, jeden Gedanken von ihm, registrierte jede noch so geringe Änderung der Muskelspannung. Als er schließlich angriff, schlug ich ihm mit einer Bewegung, die er nicht kannte, die Klinge aus der Hand. Kommentarlos trat ich zur Seite und forderte ihn mit einem Nicken auf, sie wieder aufzuheben. Ihm taten durch meinen harten Schlag die Handgelenke weh. Er nahm wieder die Bereitschaftshaltung an, zitterte jetzt aber leicht. Ich griff an und schlug ihm das Schwert ein zweites mal aus der Hand. Auf meinen Wink hin hob er es auf und griff mich wütend an. Wieder landete sein Schwert am Boden. Er sprang hin und griff danach. Ich schlug ihm das Schwert mit der flachen Kinge über den Rücken, als er herumfuhr schlug ich noch einmal auf die Wangen. Es blieb ein blutiger Kratzer zurück. Dann schlug ich ihm so heftig auf den Ellenbogen, daß seine Hand sich von alleine öffnete und er das Schwert nur noch in einer Hand hatte. Ich lenkte seinen nächsten Schlag von mir ab, schlug wieder mit der flachen Klinge zu, wieder und wieder, bis er in die Knie sank - nicht weil er das wollte, sondern weil seine Beine ihm nicht mehr gehorchten. Ich prügelte weiter auf ihn ein. Er sank auf dem Boden zusammen, leise wimmernd, die Hände umklammerten krampfhaft das Schwert, das zu heben, ihm nicht mehr gelang. Er glaubte, ich würde ihn mit der flachen Klinge zu Tode prügeln und bemühte sich um Tapferkeit, denn aufgeben durfte er der Ehre entsprechend genausowenig, wie er vor diesem Kampf hätte fliehen können. Schließlich, als er auf mich den Eindruck machte, als wäre er ungefähr in dem Zustand, in dem der Arzt beim Auspeitschen das Ende fordert, trat ich aus dem Kreis und befahl den Männern, ihn ins Bett zu bringen und den Arzt zu schicken. Er tat mir leid - aber er hatte mir auch keine andere Wahl gelassen. Er hatte reichlich bewiesen, daß er im Guten nicht hören wollte.
Ich wusch mich und zog mir warme Sachen an, dann ging ich zum Haus des
Arztes und wartete, daß er von seiner Arbeit zurückkehrte.
"Und. Bin ich zu weit gegangen?" fragte ich als der Arzt
schließlich kam.
"Er wird überleben und hat keine ernsthaften Folgen für seine
Gesundheit zu befürchten, wenn du das meinst." sagte der
Arzt in einem feindseligen Tonfall.
"Gott sei dank." antwortete ich erleichtert.
Der Arzt sah mich überrascht an.
"Ich wollte ihn nicht umbringen, ich wollte ihn auch nicht ernsthaft
verletzen. Es war nur dringend notwendig, ihm eine Lektion zum Thema
Respekt vor seinem Hauptmann zu erteilen. Und bisher hat nichts anderes
funktioniert." erklärte ich.
"Aber es hieß, das sei ein Duell auf Leben und Tod!"
"Das sollte Gerid auch denken. Aber wenn ich ihn hätte töten
wollen, wäre er jetzt tot. Oder meinst du, ich bin zu dumm, ihm den
Kopf abzuschlagen, wenn er es schon nicht mehr schafft das Schwert zu
heben?" fragte ich.
"Nein."
Einen Monat und drei weitere erfolglose Attentate später saßen
Gared und ich abends bei einer Tasse Tee zusammen. Diesmal war
es Gared, der das erste Wort sprach:
"Der Graf von Longhold meinte, hier würden meine Fähigkeiten
nicht richtig gewürdigt. Er hat mich gefragt, ob ich die Führung
seiner Wache übernehmen wolle."
"Und. Was hast du gesagt?"
"Daß ich es mir noch einmal überlegen werde."
Ich sah ihn nachdenklich an.
"Wirst du ohne mich zurechtkommen?" fragte er.
Ich überdachte die letzten Monate. Ohne seine Hilfe hätte ich es
wirklich nicht geschafft. Aber im letzten Monat waren meine Fragen an ihn
immer seltener geworden. Und die Männer hörten auf mich, schienen
sogar inzwischen der Überzeugung zu sein, daß ich ein guter
Hauptmann bin. Und - ja - ich würde jetzt allein zurechtkommen. Ich
staunte immer noch, daß er bereit gewesen war, mich all die Zeit so
rückhaltlos zu unterstützen, obwohl ich den Posten hatte, den er
sich immer gewünscht hatte und alle anderen gegen mich gewesen
waren.
"Du solltest es machen. Du wirst nie wieder eine solche Chance
kriegen." sagte ich, dann grinste ich "Und sollte sich wirklich
noch ein Problem finden, für das ich deine Hilfe brauche, werde ich
dich dort besuchen. So weit ist es nicht bis Longhold."
"Bist du dir sicher?" fragte er.
"Ja. Und es ist genau der Posten, den du hier haben wolltest. Kariv
wird dann mein Stellvertreter. Er hat bewiesen, daß er gut genug
ist, um notfalls die Garde übernehmen zu können, sollte mir
etwas passieren." erklärte ich.
Seit dem Attentat kam mir immer wieder der Gedanke, daß es sein
könnte, daß ich nicht alt würde. Nichts, das mich
beunruhigte. Ich hatte nur das Gefühl, vorsorgen zu müssen.
"Korith, eins muß ich dir noch sagen." sagte Gared
ungewöhnlich ernst zu mir.
Ich sah ihn fragend an.
"Du bist wirklich so gut, wie ich gedacht habe. So einen Mann wie dich
gibt es nur alle drei Generationen einmal."
Das konnte ich nicht glauben - auch wenn ich spürte, daß es ihm
damit hunderprozentig ernst war.
"Ich werde mit dem König reden, daß er sein
Einverständnis gibt." sagte ich.
"Danke." antwortete er.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.