Bei dieser Vorstellung lief es mir kalt den
Rücken herunter. Mir war bewußt, was alles
hätte geschehen kommen.
"Wie alt ist er?"
"Vierzehn."
"Als ich vierzehn war, habe ich Geron meiner Mutter vorgestellt. Ich sagte ihr, er wäre mein bester Freund unter den Kadetten."
"Das ist nicht wahr!" widersprach Kariv.
Kein Wunder, daß er mir das nicht glauben konnte. Er kannte mich ja als denjenigen, der es fertigbrachte, es dem König ungeachtet der gesellschaftlichen Regeln regelmäßig unter vier Augen strikt zu verbieten, ohne angemessene Leibwache loszuziehen. Und der jedem in der Garde eindeutig klargemacht hatte, daß jeder entlassen wird, der den König ohne Leibwache ziehen läßt. Jeder kannte meinen Spruch: "Notfalls müßt ihr ihn anketten." Und jeder wußte, daß ich ihn hundertprozentig ernst meinte. Geron war schon oft zu mir gekommen, um über seine Leibwache zu schimpfen - aber er mußte zähneknirschend zugeben, daß sie recht hatten.
"Es ist wahr. Und du kannst dir vorstellen,
daß es mir seit dem Attentat, bei dem
seine Familie umkam, jedesmal kalt den
Rücken herunterläuft, wenn ich mir vorstelle, was alles hätte passieren können."
sagte ich ernst.
"Du lügst mich an." meinte er.
"Was meinst du, wodurch er mich so genau
kennen und so sehr lieben gelernt hat, daß
er bereit ist, auf mich zu hören, wenn ich
ihm sage, daß er eine Leibwache mitnehmen muß?" fragte ich.
Wie Kariv mich anstarrte. Ich hatte wirklich sein gesamtes leuchtendes Bild von mir als seinem perfekten Hauptmann zerstört. Ich lächelte ironisch.
"Du kannst es mir nicht glauben, wie?"
"Nein." antwortete er.
"Aber es stimmt. Du solltest ihn nicht entlassen. Auch der Prinz wird Freunde brauchen. Ich werde mit ihm reden und du
verurteilst ihn zu einer Tracht Prügel, die
sich gewaschen hat, damit jeder sieht, was
wir davon halten." entgegnete ich.
"Aber was wird der König dazu sagen?"
fragte Kariv mich.
Ich lächelte:
"Oh - ich werde mit ihm reden. Aber mach dir keine Gedanken. Immerhin
habe ich heute noch regelmäßig mit ihm Streit, weil er ohne
eine angemessene Leibwache losziehen will. Er wird seinen Sohn verstehen.
Und mit dem Prinzen werde ich wohl auch sprechen müssen, damit er
wenigstens weiß, in welche Gefahr er sich begeben hat."
Der Junge saß zusammengekauert auf dem Strohsack in der Ecke der Zelle. Als er mich hörte, sah er zu mir auf und ich konnte sehen, daß er geweint hatte. Wahrscheinlich machte er sich im Augenblick nur Sorgen um seine eigenen Probleme. Das wäre mir sicher nicht anders ergangen, wenn mich damals jemand erwischt hätte. Das wirkliche Problem konnte er noch nicht begriffen haben. Dazu fehlte ihm einfach die Erfahrung.
"Darf ich mich zu dir setzen? Seit ich am Bauch verwundet wurde, kann
ich nicht mehr gut stehen." fragte ich leise.
"Ja. Natürlich. Aber was machst du hier? Du bist doch nur ein
Krüppel."
Ich lächelte. Bemerkenswert direkt diese Frage. Und sie zeugte von
wahrhaft kindlicher Naivität.
"Weißt du, was Kariv macht, wenn er ein Problem hat, von dem er
nicht weiß, wie man es lösen kann?" fragte ich
zurück.
"Nein."
Am Tonfall merkte ich, daß er sich nicht vorstellen konnte,
daß der Gardehauptmann solche Probleme kennen könnte. Auf den
Gedanken wäre ich in dem Alter auch noch nicht gekommen.
Er war jetzt ja auch der Ansicht, daß er ein ernsthaftes Problem
hatte und darin irrte er sich. Sein Gardehauptmann hatte ein ernsthaftes
Problem. Denn einem Jungen für eine Tat, deren Tragweite er nicht
begriffen haben konnte, das Leben zu zerstören, das wäre etwas,
das jedem Gardehauptmann, der etwas taugte, graue Haare hätte wachsen
lassen müssen. Und Kariv hatte eine Kleinigkeit übersehen. Der
Junge hatte es aus Freundschaft getan und diese Freundschaft war zu
wichtig für den Prinzen, als daß man sie zerstören
durfte. Sie mochte ihm einmal das Leben retten. Genau wie meine
Freundschaft zu meinem König mehrfach der Grund gewesen war, warum
ich Dinge tat, die gegen jede Regel verstießen, aber meinem
König das Leben retteten.
"Er kommt zu mir und fragt mich, was er tun soll." erklärte ich.
"Echt?" fragte der Junge.
"Ja. Und der König auch. Manchmal besucht er dann auch seinen
Bruder im Kloster. Und seine Frau auch. Sie fragt manchmal auch ihren
Vater. Und ich schreibe Gared einen Brief, wenn ich nicht
weiterweiß. Das ist der Hauptmann der Garde auf Longhold."
erklärte ich.
Der Junge sah mich groß an. Er glaubte mir, nur war er auf den Gedanken vorher noch nie gekommen, daß auch Erwachsene manchmal Rat und Hilfe brauchen.
"Was meinst du, was wir jetzt mit dir tun?" fragte ich leise.
Er sah mich an und schluckte:
"Ich werde aus der Garde entlassen, nicht wahr. Und dann darf ich Geri nie mehr sehen, oder?"
Ich hätte genau dasselbe gedacht, wenn ich erwischt worden wäre, damals als ich vierzehn war. Und ich hätte einen anderen Beruf erlernen können. Das habe ich jetzt ja auch gemacht. Aber die Vorstellung, Geron zu verlieren, wäre die Hölle für mich gewesen.
"Nein. Das werden wir nicht tun." sagte ich.
"Aber warum denn nicht?" der Junge war ehrlich verwirrt.
"Du weißt, daß der König mein Freund ist." sagte ich leise.
"Ja."
"Als ich so alt war wie du, war er mein Freund. Ich
habe ihm eine einfache Wachuniform besorgt. Wir haben meine Eltern
besucht und ihnen gesagt, daß er mein bester Freund unter den
Kadetten sei. Und wir haben viele verbotene Ausflüge miteinander
gemacht. Nur wurden wir nie erwischt. Weder von Freunden noch von
Feinden. Und dann, als er achtzehn war und ich vierundzwanzig, gab es
dieses Attentat, bei dem seine Familie ermordet wurde. Und ich habe ihm
das Leben gerettet und wurde zum Gardehauptmann ernannt. Von da an lief
es mir jedesmal eiskalt den Rücken herunter, wenn ich daran dachte,
wie gefährlich das gewesen war, was wir beiden als Kinder gemacht
haben. Als ich vierzehn war, habe ich es nicht gewußt, aber wenn
ich jetzt daran denke... Tu so etwas nie wieder. Nie wieder, mein
Junge."
Der Junge nickte.
"Und ein halbes Jahr später gab es wieder ein Attentat. Und
dabei habe ich meinen linken Arm verloren und es war reines Glück,
daß der König damals nicht ermordet wurde. Und noch ein
halbes Jahr später gab es wieder ein Attentat und dabei wurde ich
am Bauch verwundet. Und er hat wieder nur durch Glück
überlebt. Seit dem ersten Attentat streite ich mich immer wieder
mit dem König. Und immer nur um ein Thema, daß er nie wieder
ohne Wache losziehen soll. Nie wieder."
Es überraschte mich, wie sehr diese Erinnerungen mich immer noch mitnahmen. Denn es war ja nichts passiert, als wir Kinder waren. Es war nur die Vorstellung, was alles hätte passieren können, die mich beinahe krank machte. Und ihm war anzusehen, daß er begriff, worum es mir ging.
"Du wirst eine Tracht Prügel dafür bekommen, die sich
gewaschen hat." sagte ich.
"Ich habe es verdient." antwortete er.
Ich schüttelte leicht den Kopf:
"Nein. Es ist keine Strafe für dich. Es ist eine Warnung an die
anderen. Ich kann nicht mit jedem so reden. Manche würden es auch
nicht verstehen. Und sie müssen wissen, daß es uns ernst ist.
Nein. es ist nicht gerecht. Du wußtest nicht, was du getan hast,
genausowenig, wie ich es wußte, als ich so alt war wie du jetzt.
Dennoch hätte ich lieber die schlimmste Tracht Prügel der Welt
bekommen, als erleben zu müssen, wie mein Prinz stirbt. Und im
gewissen Sinne habe ich die ja auch bekommen. Du wirst es verkraften, oder?"
"Ja. Ich werde es verkraften." sagte er.
Ich legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
"Ich wünsche dir alles Gute. Und laß dich nicht unterkriegen."
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.