FC8.

Selbstmord

Am nächsten Morgen weckten mich die beiden Soldaten, die diesmal aber nicht besoffen waren.
"Diesmal kommst du mit und hilfst uns." befahl mir der eine, während der andere ungeduldig zusah, wie ich mich anzog und zumindest ein wenig Wasser trank, denn an Essen hatten sie nicht gedacht.

Als erstes gingen wir in Koheriths Zelle - und stellten fest, daß er sich aufgehängt hatte. Ich sah ihn fassungslos an und brach dann in Tränen aus. Während der eine der Männer mich auf seine rauhe und etwas bärbeißige Art zu trösten versuchte, schnitt der andere die Leiche los. Das mit dem Trösten funktionierte nicht, da ich schlicht zu erschöpft war, um mich wieder fangen zu können.

Danach sahen sich die beiden an und einer meinte:
"Was machen wir jetzt?"
"Weiß nicht." antwortete der andere.
"Was ist los - normalerweise gibt es doch ganz klare Richtlinien, was bei einem Selbstmord zu tun ist."
"Schon aber... weißt du, der Gefängnisleiter meinte, wenn auch nur einer von denen stirbt, dann fliegen wir aus dem Dienst."
"Dann nehmt ihr mich mit, wenn ihr Bericht erstattet - ich werde ihm sagen, daß ich ganz ehrlich der Ansicht bin, daß es nicht eure Schuld ist. Es dürfte dann auch ihm klar sein, daß eine solche Strafe in diesem Fall ungerecht wäre." sagte ich.
"Das würdest du für uns tun?" fragte der eine von ihnen überrascht.
"Ja. Und in Zukunft müssen wir sehen, daß wir besser auf die Leute aufpassen, die wir zur Besinnung kriegen - auch wenn ich nicht weiß, ob das viel nützt. Einen Menschen, der sterben will, am Selbstmord zu hindern, ist im Endeffekt unmöglich. Und jeder von uns Reitern hat dazu Grund genug." antwortete ich.

"Und du meinst wirklich, er hätte sowieso Selbstmord begangen?" fragte mich der Gefängnisleiter als ich erzählt hatte, was vorgefallen war.
"Vielleicht hätte es etwas gebracht, ihm den jungen Drachen zu zeigen. Aber auf den Gedanken war ich einfach nicht gekommen. Wie willst du jemanden am Selbstmord hindern, der sterben will?" antwortete ich.
"Warum sollte es etwas ändern, wenn man ihm einen jungen Drachen zeigt?" fragte der Gefängnisleiter verwirrt.
Wie sollte ich das erklären, ohne gleich sämtliche Vorurteile zu bestätigen? Ich begann von meiner Kindheit zu erzählen, wie ich als sechzehnjähriger mehrfach kurz hintereinander ins Krankenhaus kam, weil mein Vater mich krankenhausreif geprügelt hatte. Dann war ich gefragt worden, ob ich einen Drachen reiten wolle. Ich sagte ja, denn ich hatte gehört, daß Drachenreiter niemals geschlagen werden. Ich erzählte von der Gegenüberstellung, von der Begeisterung des jungen Drachen, gerade mich gefunden zu haben.
"Und irgendwie hat es nicht nur mein Bild von mir selbst verändert und mich gelehrt, mich selbst mehr zu lieben. Es hat mich auch gelehrt andere Menschen so zu sehen, wie ein Drache seinen Menschen sieht. Mit viel, viel Liebe, unabhängig davon, was für ein Mensch es auch sein mag. Der Anblick eines jungen Drachen hätte Koherith vielleicht helfen können, diese Liebe in sich wiederzufinden." schloß ich meinen Bericht.

Der Gefängnisleiter hatte sich den Bericht angehört und konnte es nicht fassen. Konnte es wirklich sein, daß dieser ruhige, zufrieden und ausgeglichen wirkende Mensch in seiner Kindheit so mißhandelt worden war? Und das über Jahre hinweg?

Ganz davon abgesehen - warum machte er sich jetzt keine Sorgen um die Zukunft? Er mußte doch wissen, daß Drachenreiter nichts Gutes zu erwarten hatten! Und wenn er zu sich selbst ehrlich war, müßte ihm auch klar sein, daß ein kleiner Gefängnisleiter daran gewiß nichts ändern konnte. Wenn er den Drachen wirklich so geliebt hatte, warum haßte er ihn nicht? Eigentlich müßte er all die menschlichen Eroberer hassen, die ihm sein ganzes Leben kaputtgemacht hatten. Doch bis jetzt war von ihm nur ruhige Freundlichkeit zu spüren. Und Humor. Wie konnte er unter diesen Umständen noch lachen?
"Du müßtest mich doch hassen." sagte der Gefängnisleiter.
"Du persönlich hast mir nichts getan. Im Gegenteil, du hilfst uns so viel, wie es dir möglich ist. Warum sollte ich dich hassen?" fragte der Drachenreiter zurück.
"Unser Heer hat deinen Drachen ermordet."
"Nicht nur meinen Drachen. Auch die meisten meiner Freunde. Sowohl Menschen als auch Drachen. Und auch mich wird höchstwahrscheinlich eine Art Todesurteil erwarten. Aber wenn ich jetzt hassen würde, würde das nichts davon ungeschehen machen. Es würde nur ein wenig mehr Haß und Grausamkeit in die Welt bringen. Wenn ich aber liebe, mag es sein, daß eine weitere solche Eroberung nicht ganz so grausam ausgehen wird." antwortete der Drachenreiter ruhig.
Und diesmal war seine tiefe Traurigkeit auch auf dem Gesicht abzulesen.

Danach schickte der Gefängnisleiter uns wieder aus seinem Büro, wir sollten auch dem Rest der Drachenreiter etwas zu Trinken einflößen.

Kersti


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Thema: Drachen

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