FC21.

Ruhige Zeiten

Nachdem sie mir den Arm abgenommen hatte, rief mich der Professor zum Gespräch, sobald ich zurück war. Er hatte wieder seine boshafte Art an sich, tat einige Dinge, nur um mich zu verunsichern, mir Angst einzujagen - drohte mir, mich als Friedenshüter bei der Führung zu melden und ich lachte ihn einfach aus - daß er sich selbst damit Probleme schaffen würde, sagte ich nicht, denn er hatte es ja wochenlang ungemeldet gelassen. Aber unabhängig davon sah meine Situation dermaßen übel aus, daß eine solche Meldung nur eine Art von Foltern gegen eine andere Art Foltern austauschen würde. Es gab für mich nichts zu gewinnen und wenig zu verlieren, außer dem, was mir am wertvollsten war: Mein gutes Gewissen und meine Selbstachtung.
Merkwürdigerweise spürte ich nach diesem Lachen wieder diese telepathische Wahrnehmung von Einverständnis.

Und danach konnte ich mehrere Jahre arbeiten, ohne wieder operiert zu werden. Ich ging jedes Kapitel meines Lebens mehrfach durch, versuchte es zuerst zu beschreiben, so daß Leser meine Gefühle möglichst gut nachempfinden, meine Gedanken möglichst gut nachvollziehen konnten, danach wechselte ich in die psychologische Fachsprache und erklärte das, was dahinter im Unbewußten ablief, so gut ich es ergründen konnte - und das konnte ich um ein vielfaches besser als die meisten Menschen.

Und eines Tages dann hallte wieder die Lautsprecherstimme durch die Räume:
"Khaerith zur Operation. Khaerith zur Operation."
Sie nahmen mir eine Niere heraus. Und kaum war die Operation beendet, rief der Professor mich in sein Büro. Er hatte wieder diese kalte lauernde Haltung an sich, die er ganz am Anfang gehabt hatte. Dabei war er in den Jahren zwischendurch teilweise ehrlich freundlich gewesen.
"Warum hast du dieser Operation zugestimmt?" stellte ich den Professor zur Rede.
"Weil du dazu da bist, anderen, die wichtiger sind als du, ein längeres Leben zu ermöglichen."
"Das mag die offizielle Position der Regierung zu dieser Frage sein, aber es ist nicht dein persönlicher Grund, dieser Operation zuzustimmen." widersprach ich.
"Du bist nicht mehr wie früher."
"Was war an mir früher anders?" fragte ich zurück.
"Du warst so strahlend."
"Ach so. Ich hatte mich nicht mehr bemüht, normal zu erscheinen, weil ich nichts mehr zu verlieren hatte. Wenn wir immer unser Innerstes nach außen kehren würden, wären wir so leicht zu finden wie eine Navigationsbake im Weltraum. Man könnte uns einfach nicht übersehen und deshalb würden wir gefangen und ermordet, bevor wir mit unserer eigentlichen Arbeit auch nur beginnen können. Deshalb bemühen wir uns, uns unauffällig zu verhalten. Und das ist uns so weit in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir es automatisch immer tun, wenn uns niemand so sehr bedroht, daß diese Verkleidung sinnlos erscheint." erklärte ich.
"Aber das ist doch nichts, dessen man sich schämen müßte, dieses Strahlende..."
"Schämen? Nein. Aber die ganze Welt hat sich entschlossen, uns als Verräter zu verfolgen."
"Ihr seid doch auch Verräter..."
"Ach ja? Und wen von den vielen Völkern, die uns verfolgen, haben wir bitte schön verraten, welche von den Geschichten stimmt?"
"Keine."
Überrascht sah ich ihn an. Ich hätte nicht gedacht, daß er es weiß.
"Richtig. Keine. Alle sind sie vom menschlichen Geheimdienst in die Welt gesetzt." bestätigte ich.

Abends dachte ich über das Gespräch nach. Ich kann nicht sagen, wie erstaunt ich war, als ich seine Worte hörte... das Strahlende hatte ihn fasziniert. Das Strahlende, das wußte ich inzwischen, war nichts Anderes als die Wirkung davon, daß ich seit vielen Leben kompromißlos meinem Gewissen gefolgt war. Jeder von uns neun übriggebliebenen Friedenshütern strahlte es aus. Überraschend aber war daran, daß gerade ein solch herzloses zynisches Arschloch wie dieser Psychologieprofessor davon so fasziniert war, daß er all seine Grundsätze und Überzeugungen darüber vergaß. Aber zumindest hatte es mir verraten, wie ich mich ihm gegenüber verhalten mußte: Offener, als ich es bisher getan hatte, ihm meinen Stolz zeigen und wie ich mich selbst einschätzte. Ihn als das behandeln, was er war.

Es kam für ihn etwas überraschend, daß ich anfing, ihm Befehle zu erteilen - Befehle mit genauen Erklärungen über das warum und wie zwar - aber Befehle. Noch viel überraschender war für ihn, daß ich ihn von Zeit zu Zeit ein Arschloch nannte - im freundlichen liebevollen Ton zwar - aber ein Arschloch. Beides ließ er sich gefallen, denn es geschah nur unter vier Augen. Und er führte meine Anweisungen aus - nicht wie ein Hund sondern aus einer Neugier heraus, was daraus werden mochte. Da ich es ihm verboten hatte, hörte er auf, die anderen von Zeit zu Zeit zu ärgern und ihnen weh zu tun.

Dann wurden meine Anweisungen allmählich weniger genau, ich zeigte ihm, daß ich von ihm erwartete, daß er seinen eigenen Kopf verwende, um entsprechend meiner moralischen Grundsätze zu leben. Und er bemühte sich darum. Nur ganz selten tat er etwas, von dem er wußte, daß ich es nicht gut finden würde und ich erklärte ihm dann nur ruhig, warum ich es für schlecht hielt. Ohne Vorwurf.

Die Drachen wurden größer. Daera war am Ende 10m und Katira 15m seit Jahren bettelten sie darum, draußen fliegen zu dürfen, weil es im Freigehege längst zu eng war, um richtig zu fliegen und ich drängte den Professor, sich darum zu kümmern. Er tat das auch. Aber es dauerte Jahre, bis er die Männer an den zuständigen Stellen überzeugen konnte, daß die Drachen sich an die ihnen vorgegebenen Flugrouten und Verhaltensmaßregeln halten würden.

In dieser Zeit schrieb ich meine gesamte Lebensgeschichte auf, doch bevor ich das letzte Kapitel begann, ging ich alles noch einmal durch und korrigierte Fehler, formulierte hier und da etwas besser oder genauer, fügte neue Kapitel und Erklärungen ein. Schließlich fragte der Psychologieprofessor mich, warum ich nicht weiterkäme. Ich erklärte es ihm.
"Und warum schreibst du nicht erst zuende und verbesserst dann?" fragte er.
"Würdest du mir erlauben, dann noch die letzten Fehler zu verbessern, oder wirst du meinen Körper vorher zum Ausschlachten freigeben?" fragte ich ihn.
Er senkte den Kopf und schwieg - was auch eine eindeutige Antwort war. Und es war genau die Antwort, die ich erwartet hatte.
"Du schreibst das letzte Kapitel morgen." befahl er.
"Warum?" fragte ich.
"Ich habe Angst. Wenn ich es noch viel länger hinauszögere, werden sie mich am Ende auch noch hinrichten." antwortete er.
Das war eine ehrliche Antwort, die ich mit einem Nicken akzeptierte. Ich sah ihn lange schweigend an, erspürte seine Energie(VA180. Definition Eso) und wußte, daß er nicht länger warten würde, ganz gleich, was ich tat.

"Gut. Das letzte Kapitel bekommst du morgen." antwortete ich.

In mir war alles still und wie erstarrt. Ich wußte schließlich, was das hieß.

Kersti


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Thema: Drachen

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Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
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