"Hast du denn auch so einen wie mich?" fragte ich.
"Nein. Das haben nur ganz wenige, die ganz Reichen."
"Ist es denn draußen so gefährlich, daß man sich so
oft verletzen oder krank werden muß? Keiner von uns ist noch heil,
wenn wir erwachsen sind." fragte ich.
"Nein. Nicht wirklich. Menschen wie ich werden ja auch meist gesund
erwachsen." antwortete er.
"Aber warum geht es dann den Reichen anders? Ist ihr Leben
gefährlicher?" fragte ich.
"Nein. Nicht wirklich. Sie haben nur ziemlich gefährliche
Vergnügungen." erklärte er.
"Was sind Vergnügungen?"
"Sachen, die man nur macht, weil man sie gern macht."
Ich starrte den Arzt fassungslos an. Konnte es wirklich Menschen geben,
denen es egal war, wenn für ihren Spaß Menschen nach und nach
in Einzelteile zerlegt werden? Danach redete ich nur noch über
unwesentliche Dinge. Das mußte ich erst verdauen.
Einige Tage später bei seinem nächsten Besuch fragte ich:
"Was ist mein Original für ein Mensch?"
"Ich weiß es nicht."
"Kannst Du es herausfinden?"
"Ich kann seine Akte raussuchen und nachschauen."
"Bitte. Ich will das wissen."
Als er mir die Akte vorlas, dauerte es ziemlich lange, weil er mir beinahe jedes Wort erklären mußte, damit ich verstand, wovon die Rede war. Doch je mehr ich verstand, desto unglaublicher erschien es mir. Warum beispielsweise würde jemand freiwillig von einem Haus runterspringen, das vier mal so hoch ist wie ein Zimmer? Das konnte der Arzt auch nicht verstehen - doch mein Original hat solche Dinge getan und sie Vergnügen genannt. Erblindet war er zwei mal, weil er lauter ungesunde Sachen getrunken hat und davor hat er schon eine Niere bekommen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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