Der kleine Torey wuchs heran und ich lernte ihn kennen und lieben, wie sonst niemanden. Es war so eine merkwürdige Verbundenheit zwischen uns. Ich erzählte ihm alles, was ich wußte und wünschte, ihn vor dem schützen zu können, was hier jedem früher oder später angetan wird. Der älteste Torey wurde in dieser Zeit ein mal zur Operation geholt, um ihm einige Nervenstränge herauszuoperieren.
Eines Tages kam Kores zu mir und sagte:
"Komm mit raus, da will jemand mit dir sprechen."
"Keine Operation?"
"Heute nicht - aber etwa in einer Woche."
"Was?"
"Das Herz und drei Rippen."
Danach sagte ich erst einmal eine Weile nichts, denn wenn sie einem das
Herz herausnehmen, heißt das, daß man nicht mehr stark genug
ist, um aufzustehen, weil die Pumpe, die sie als Ersatz hineintun, nicht
so stark ist wie das Herz. Der älteste Torey hatte schon lange kein
Herz mehr.
Dann richtete ich mich schweigend auf, und ließ mich von Kores zu dem führen, der mit mir sprechen wollte. Für meine Verhältnisse war es ein sehr weiter Weg und ich war nachher klatschnaß geschwitzt und erschöpft.
Ich spürte die Anwesenheit eines Menschen in dem Raum, wo mich Kores
am Ende auf einen Stuhl setzen ließ.
"Mit wem habe ich die Ehre?" fragte ich.
"Mit Torey Kanahan." antwortete eine Stimme, die meiner für
meinen Geschmack viel zu ähnlich klang.
Trotzdem erschien sie mir sehr unsympathisch, es klang einfach zu viel
Herablassung mit. Dann erst dachte ich über den Namen nach und mir
fiel ein, daß wir ja immer nach unserem Original benannt wurden und
deshalb...
"Dann bist du mein Original." stellte ich fest.
"Ja."
"Warum wolltest du mich sprechen?"
"Das weiß ich auch nicht mehr... warum ich mit so einem
lächerlichen Krüppel sprechen wollte." meinte er in einem
verächtlichen Tonfall.
"Dafür, daß ich ein Krüppel bin, muß nicht ich
mich schämen, sondern du. Denn es sind deine Verletzungen, für
die ich damit bezahle." wies ich ihn scharf zurecht.
Kores, schnappte nach Luft, wegen dieses unverschämten Tonfalls. Ich
jedoch sah keinen Grund, mir darum Sorgen zu machen. Alles was er mir an
ernsthaften Problemen schaffen konnte, würde früher oder
später seiner eigenen Gesundheit schaden. Eher früher,
schließlich wurde für seine Gesundheit mein Körper
ausgeschlachtet und er war hier, um ein paar neue Körperteile von
mir zu bekommen. Ein wenig Folter war es wert, ihm mal so richtig die
Meinung sagen zu können - allerdings noch wertvoller wäre
es, wenn er es auch einsehen würde. Das mußte irgendwie zu
erreichen sein... Mit Sicherheit wäre es jedenfalls falsch, ihm mit
Unterwürfigkeit zu kommen, denn von Kores wußte ich, daß
er Untergebene grundsätzlich mit Verachtung und Grausamkeit
behandelte. Nicht, daß es mir jetzt noch viel bringen würde,
wenn ich ihn überzeugen könnte - aber vielleicht dürfte
der kleine Torey dann heile bleiben.
"Du bist nur eine Reserve. Es sollte dir eine Ehre sein, der
Gesundheit eines so edlen Menschen zu dienen, wie ich es bin."
in das Wort Reserve legte er eine solche Verachtung, als wären wir
etwas Schmutziges.
"Wenn ich das recht verstehe, Original, dann haltet ihr euch wegen
eurer ach so überlegenen Gene für besser als das einfache
Volk. Dummerweise haben wir Reserven exakt dieselben Gene wie ihr."
ich sprach das Wort Original in demselben beißend
verächtlichen Tonfall aus, wie er für das Wort Reserve
gewählt hatte.
"Torey!" mahnte der Arzt mich entsetzt.
"Verschwinde Arzt. Ich bin durchaus fähig, meine Reserve selbst
zur Räson zu bringen!" wies der Original-Torey ihn barsch
zurecht.
Der Arzt gehorchte.
"Weißt du, was wir dir diesmal abnehmen werden." fragte
Torey gehässig sobald wir allein waren.
"Ja. Das Herz und drei Rippen." antwortete ich kalt.
"Ich könnte den Ärzten sagen, daß sie deine
Betäubung ausstellen sollen während der Operation." fuhr er
in einem zuckersüßen Tonfall fort.
"Was ist eine Betäubung?" fragte ich sachlich nach dem
unbekannten Wort.
"Das, das dafür sorgt, daß dir die Operation nicht
wehtut." antwortete er boshaft.
"Eine Operation, die nicht wehtut, gibt es nicht." widersprach
ich.
"Oh es könnte aber noch viel schlimmer werden..."
Das schien mir eine zumindest überraschende Vermutung - noch
schlimmer als meine letzte Operation? Wohl kaum!
"Das bezweifle ich. Wenn du der Ansicht bist, daß eine Operation
unter Umständen nicht wehtun könnte und ich nicht, dann
heißt das, daß ich nie eine Betäubung bekommen habe, du
aber bei den Operationen betäubt wurdest." widersprach ich.
"Keine Betäubung?" fragte er fassungslos.
"Torey. Niemand interessiert, was wir während der Operationen
fühlen, niemand interessiert, was wir danach fühlen. Niemand
interessiert, was wir denken. Und es ist ihnen allen herzlich egal ob
wir glücklich oder totunglücklich sind." erklärte ich
jetzt viel sanfter eine der wesentlichen Tatsachen unseres Lebens.
"Allen?" fragte er entsetzt.
"Kores ist eine große Ausnahme. Dir zumindest war es bis vor ein
paar Minuten völlig egal. Und du bist am Ende derjenige, der
über mein Glück oder Unglück entscheidet. Zumindest kann
ich deinen ungesunden Lebenswandel und deine leichtsinnigen
Vergnügungen nicht sehr rücksichtsvoll finden." stellte
ich zornig fest.
In dem Augenblick war ich heilfroh, daß Kores mir all diese Dinge
erzählt hatte.
"Aber ich kannte dich doch gar nicht."
"Dann solltest du den kleinen Torey kennenlernen, damit du
weißt, was du tust, wenn du deine Gesundheit ruinierst." wies
ich ihn streng an.
"Aber..."
"Was aber?"
"So etwas tut doch niemand!"
"Sag mal, was für ein Weichei bist du eigentlich, daß du
unfähig bist, Dinge zu tun, die kein anderer tut?" fragte ich
verächtlich.
"Also gut. Ich lerne ihn kennen."
"Ich will, daß du ihn mit nach Hause nimmst und ihn aufziehst,
als wäre er dein Sohn." erklärte ich.
"Warum sollte ich?" fragte er bockig.
"Damit du weißt, was du tust, wenn du deine Gesundheit
ruinierst." wiederholte ich.
Er schwieg lange, dann sagte er in einem völlig veränderten
Tonfall:
"Ich werde tun, was du sagst."
"Danke. Er ist der Mensch, den ich am meisten liebe." sagte
ich.
"Wirst du ihn nicht fürchterlich vermissen?" fragte er
sanft.
"Ich will, daß es ihm gut geht." sagte ich und begann dann
zu meinem eigenen Erstaunen zu weinen.
Eigentlich bin ich kein Mensch, der oft weint. Er hat mich richtig
liebevoll gestreichelt, um mich zu trösten.
Kores der Arzt wollte mir am nächsten Tag, als er mich auf Befehl des Original-Torey wieder in dessen Krankenzimmer brachte, nicht glauben wie unser langes und sehr heftig geführtes Streitgespräch geendet hatte. Als er gleich danach wieder fortgeschickt wurde mit dem Auftrag den kleinen Torey auch noch hierherzubringen, zog er nur schweigend wieder ab.
Ich redete über eine Stunde mit dem Original-Torey, während der kleine Torey am Anfang eher zuhörte. Dann schickte mein Original mich wieder zurück in den Lebensraum.
Der kleine Torey redete stundenlang mit dem Original. Er hat mir nicht erzählt, worum es ging.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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