erste Version zwischen dem 02.06.06 und dem 01.05.07

Das Drachenreich: Ich bin ein Zentaur

FE9.

Elternsorgen

Vorgeschichte: FE8. Kersti: Der Institutspsychologe

Gats erzählt:
Jorian duldete nur widerwillig, daß wir ihm an seinem zweiten Tag am Institut Samen für die Zeugung seiner Kinder abnahmen und gab mehrere Proteste dagegen in die Akten. Vollkommen zu recht meinte er, daß niemand gezwungen werden sollte, seine Kinder unter solchen Umständen zu bekommen. Dummerweise hatte ich es wirtschaftlich nicht rechtfertigen können, ihn nicht dazu zu zwingen. Daß Jorian sich darüber im Klaren war, zeigte sich darin, daß er eine wissenschaftliche Abhandlung über den Unsinn dieser Praxis veröffentlichte, die sich ausschließlich gegen das System richtete, das mir keine andere Wahl gelassen hatte. Sie wurde nur in wenigen Exemplaren verkauft.

Er schrieb noch ein anderes Buch in der Zeit, das sich hauptsächlich mit verschiedenen grausamen Forschungsmethoden befaßte, und daß andere Methoden für die Tiere, Nichtmenschen und Menschen, an denen geforscht wurde, nicht nur schonender seien, sondern auch zuverlässigere und praxisnähere Ergebnisse brächten. Dieses Buch verkaufte sich sehr gut.

Das Pferd, in das wir eines seiner Fohlen eingepflanzt hatten, wollte Jorian bei sich haben und ich stimmte ihm zu, da Nichtmenschen seelisch am gesündesten heranwachsen, wenn sie von Anfang an eine erwachsene und seelisch gesunde Bezugsperson der eigenen Rasse haben. Als die Trächtigkeit der Zentaurenstute und des Pferdes mit Jorians beiden Fohlen zuendeging, änderte sich Jorians Verhalten nach und nach. Immer wieder konnte ich beobachten, wie er versonnen lächelnd den dicken Bauch der beiden streichelte.

Ich wollte einen Tierarzt mit der Überwachung der Geburt beauftragen, doch der Zentaur lehnte ab und wies darauf hin, daß er im Gestüt, wo er aufgewachsen war schon bei der Geburt von hunderten von Fohlen dabei gewesen sei und deshalb diese Aufgabe ebensogut übernehmen könnte. Auch mein Vorschlag, daß die Geburt in der Klinik des Instituts stattfinden solle, wurde von ihm mit dem Hinweis auf diverse Statistiken zu Tieren, Nichtmenschen und Menschen der verschiedensten Rassen abgewehrt, die belegten, daß ungestörte Geburten in der gewohnten Umgebung der Mutter die geringsten Komplikationsraten aufwiesen. Schließlich gab ich seinem Wunsch nach.

Eines Tages, fast ein Jahr nach seiner Ankunft bei uns, rief er mich an und meldete die Geburt seines ersten Sohnes. Ich freute mich, über seinen atemlos glücklichen Gesichtsausdruck. Dann verstellte er den Aufnahmebereich der Kamera auf Weitwinkel und zeigte mir seinen bildhübschen schwarzen Sohn, dem er den Arm um die Schultern gelegt hatte und liebevoll über sein wuscheliges schwarzes Fohlenfell streichelte. Im Hintergrund konnte man das Pferd wiehern hören, das mit ins Büro wollte, wo sein Fohlen war.

Den Rest des Tages beobachtete ich immer wieder zwischen meiner Arbeit, wie Jorian, dem ich befohlen hatte, sich diesen Tag ganz seinem ersten Kind zu widmen, sich liebevoll um seinen schwarzen noch ein wenig unbeholfenen Sohn kümmerte. Es war so süß. Und ich habe Jorian nie so glücklich gesehen.

Seit er hier im Institut war, war er beängstigend ernst. Sein Lächeln, wenn er sich entschied zu lächeln, hatte immer etwas düsteres, schwermütiges an sich. Er lächelte nur, um Liebe auszudrücken, niemals aus Freude. Er war unglaublich fleißig. Ihm ging es um die anderen Nichtmenschen. Immer wieder wies er nach, daß eine Untersuchung mehr Schaden als Nutzen anrichtete und bewahrte damit einen von ihnen vor weiteren Schmerzen und Grausamkeiten. Ich glaube, das war ein Versuch, die Angst, noch einmal für Jahre im Regenerator zu landen, während ihm Organ nach Organ entfernt und regeneriert wird, zu bannen. Ich machte mir Sorgen um ihn, obgleich er mir immer wieder versicherte, daß es ihm gut ginge. Ich habe ihn schließlich regelrecht zu einer Psychotherapie gezwungen.

Jetzt war es anders. Jorian lächelte, wann immer ich eine Aufnahme der ständig laufenden Überwachungskameras an mich heranzoomte und sein Gesicht im Bildschirm betrachtete. Ich beobachtete ihn stundenlang und freute mich, daß er so glücklich war.

Als ich ihm abends erzählte, das ich ihn den ganzen Tag beobachtet hatte, lachte er und meinte: "Du bist doch verrückt. Wenn du sowieso nicht arbeitest, warum kommst du uns nicht einfach hier besuchen und deklarierst das als absolut notwendige Verhaltensforschung?"
Damit hatte er allerdings recht.

Jorian, der Zentaur:
Die schwachsinnigen Zentaurenstute Elis lief hinter mir her, wie ein neugeborenes Fohlen hinter seiner Mutter. Die letzten Tage, bevor sie ihr erstes Fohlen zur Welt brachte, kosteten mir den letzten Nerv: ständig jammerte sie mir die Ohren voll, daß ihr Bauch viel zu schwer wäre und wann die Schwangerschaft endlich vorbei wäre.

Sehnlichst wünschte ich mir da, sie wäre wie das Pferd, das sich ein paar Tage zuvor hinter die Büsche verzogen hatte und bevor ich sie vermißt und wiedergefunden hatte schon ihr Fohlen zur Welt gebracht hatte. Es war ein schöner schwarzer Zentaurenjunge mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Die Stute fühlte sich gestört, als ich ihr half, meinen durch in vitro Befruchtung gezeugten und von ihr ausgetragenen Sohn trockenzureiben. Noch mehr störte sie, daß er immer, wenn ich zu Hause war, lieber hinter mir als hinter ihr herlief. Mich wunderte das gar nicht - ich hatte als Kind genausowenig ein Pferd als Mutter akzeptieren können.

Als die Wehen anfingen, begann Elis erst richtig zu jammern. Dabei hatte sie keine Schmerzen. Es war ihr lediglich zu anstrengend, obwohl die Geburt völlig problemlos verlief und kaum eine halbe Stunde dauerte. Als ihr Kind schließlich noch feucht im Gras lag, rieb ich es trocken, bewunderte sein wundervolles fuchsrotes Fell - das Mädel hatte die Farbe von seinem Vater und war nicht mit mir verwandt - ihre noch kurze aufrecht stehende rote Mähne, die zierlichen Hufe. Eine ihrer Fesseln war weiß. Ich zählte die Finger ihrer winzigen Kinderhände, betrachtete ihr süßes fellbedecktes Gesicht. Stolz beobachtete ich, wie sie sich bemühte, das erste mal aufzustehen. Erst als das Mädchen bei mir nach Milch suchte, merkte ich, daß Elis weggelaufen war. Sie graste am anderen Ende der Wiese.

Empört rief ich sie zurück und befahl ihr streng, ihr Kind trinken zu lassen.
"Ich will aber kein Kind!" protestierte sie.
"Elis, entweder läßt du sie freiwillig trinken, oder ich zwinge dich dazu."
Sie schlug nach mir aus.
"Elis!" rief ich empört.
"Du magst die Kinder viel lieber als mich!"

Damit hatte sie natürlich recht: ihre fuchsrote Tochter mit der weißen Fessel hatte ich sofort ins Herz geschlossen, während Elis mir von Anfang an nur auf den Geist gegangen war. Dennoch fand ich es unglaublich, daß sie auf ihre Tochter eifersüchtig war, statt sie als ihr eigen Fleisch und Blut zu lieben.
"Elis, wenn du sie nicht trinken läßt, lasse ich dich in den Pferdestall bringen und hole mir dafür eine Stute als Amme für meine Tochter. Und glaub bloß nicht, daß ich dich dann da besuchen komme." drohte ich ihr.
Murrend ließ sie das Kind ans Gesäuge und hielt widerwillig still, bis ich ihr erlaubte zu gehen.

Dann ging ich in mein direkt neben dem Gehege gelegenes Büro, berichtete Gats von der Geburt und bat ihn, die heutige Dienstbesprechung bei mir abzuhalten, damit ich meine Tochter nicht mit ihrer eifersüchtigen Mutter alleinlassen mußte. Er stimmte zu.

Den Rest des Tages spielte ich mit mit den Kindern. Mein Sohn Zareth mochte Retha, wie ich das fuchsrote Mädchen nannte, von Anfang an, küßte und umarmte sie, so oft sie das zuließ. Da er erst drei Tage alt war, hatte er noch zu wenig Worte aufgeschnappt, um mit ihr eine echte Unterhaltung führen zu können, aber es war einfach rührend, die beiden zu beobachten, wie er sie überall herumführte und ihr alles zeigte. Er jedenfalls war glücklich über seine kleine Schwester - die in Wirklichkeit natürlich nicht mit ihm verwandt war.

Da die beiden sich jetzt die meiste Zeit miteinander beschäftigten, hatte ich am Abend, als Gats kam, zum ersten mal nach der Geburt meines Sohnes wieder Aufmerksamkeit für den Leiter des Zentrums übrig.

Unauffällig beobachtete ich sein Verhalten. Wenn er die Kinder beobachtete, wirkte er eher nachdenklich. Er sprach freundlich mit ihnen, wirkte aber eher gleichgültig. Wenn ich jedoch über die Kinder sprach - wie niedlich sie waren und was sie alles schon konnten - dann sah ich ihn lächeln.

Mir wurde klar, daß er sich nicht über die Kinder freute, sondern darüber, daß ich glücklich war. Er war sich wohl nicht bewußt, daß ich in ihrer Gegenwart alle Sorgen - die ich mir gerade um sie machte - zurückstellte, um ihnen eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Ich wünschte, ich hätte das Geld, sie alle freizukaufen, damit ich sicherstellen konnte, daß sie einen Beruf ergreifen konnten, der ihnen lag, statt erleben zu müssen, daß sie für irgendwelche Forschungsvorhaben verbraucht werden.

Adeira, Psychologische Assistentin:
Jorian, der Zentaur war der widerspenstigste Patient den ich als Psychologin jemals hatte. Es ist häufig so, daß die sehr wütenden und regelrecht - manchmal sogar wortwörtlich - bissigen Patienten, wenn sie sich überhaupt auf eine Therapie einlassen, am schnellsten ihr Leben in den Griff kriegen, deshalb sah ich das als gutes Zeichen.

Je näher die Geburt der durch in vitro Befruchtung gezeugten Zentaurenfohlen kam, desto häufiger redete Jorian darüber, daß er sich Sorgen um seine zukünftigen Kinder machte. Er erzählte hunderte Erlebnisse aus seiner Kindheit, die seine Kinder nie erleben sollten. Während wir seine Erlebnisse aufarbeiteten, lief mir ein Schauer nach dem anderen den Rücken herunter, wegen der eisigen Kälte, mit der die Menschen mit diesem Zentaurenkind umgegangen waren. Und es wunderte mich, daß er trotz dieser Mißhandlungen zu einem im wesentlichen gesunden Erwachsenen herangewachsen war. Klar er hatte seine Ängste und Alpträume - aber wer hätte das nicht gehabt?

Mir war noch niemand untergekommen, der dermaßen mißhandelt wurde, ohne wahnsinnig zu werden. Drei Jahre Dauerfolter - anders kann man eine Regeneratortherapie dieser Art und Dauer nicht nennen - sind mehr als ein normaler Mensch verkraftet. Meinen Rat, ein Buch darüber zu schreiben, damit er es verarbeiten kann, lehnte er zuerst wütend ab und befolgte ihn nach einem Monat dann doch, als ich ihm sagte, daß es gewiss möglich wäre, damit den ein oder anderen zu überzeugen, daß eine solche Therapie zerstörerisch ist.

Nachdem die jungen Zentauren zu Welt gekommen waren, machte er sich Sorgen um aktuelle Probleme. Elis war durch die Vernachlässigung ihrer Kindheit unfähig zu mütterlichen Gefühlen und eifersüchtig auf ihr eigenes Kind, weil Jorian bisher derjenige gewesen war, der sich am meisten um die schwachsinnige Zentaurenstute gekümmert hatte. Ich riet Jorian, jetzt besonders zärtlich zu Elis zu sein, da das sie am ehesten davon abhalten würde, den Kindern mit kleinlichen Gemeinheiten das Leben schwer zu machen. Es hielt sie natürlich nicht davon ab. Sie benahm sich wie ein Kleinkind, was sein noch kleineres Geschwister tyrannisiert. Jorian hatte jede Woche zehn neue Geschichten, bei denen Elis sich unmöglich benommen hatte und hatte bald Angst, sie mit den Kindern alleine zu lassen.

Schließlich fragte ich Jorian, warum er seine Stellung als Stellvertretender Institutsleiter nicht ausnutzte, um sich eine vernünftige Zentaurenstute ins Haus zu holen.
"Auf den Gedanken bin ich noch nicht gekommen." antwortete er.

Kataira, die Zentaurenstute erzählt:
Ich kam im Forschungszentrum Turia zur Welt. Daß ich richtig sprechen, lesen und schreiben lernte, habe ich wohl der Tatsache zu verdanken, daß meine Entwicklung die ersten zehn Jahre lang sehr intensiv psychologisch erforscht wurde, doch das wußte ich als Kind nicht. Ich vermißte die Psychologin sehr, als sie mich an meinem zehnten Geburtstag für immer verließ, denn sie war die einzige, die mich wie einen vollwertigen Menschen behandelt hatte. Ich war am Boden zerstört, als ich als zwanzigjährige herausfand, daß die Frau, die ich wie eine Mutter geliebt hatte, ein Buch über mich geschrieben hatte, in dem sie alle meine kleinen Geheimnisse veröffentlichte, die ich ihr anvertraut hatte. Sie war der einzige Mensch gewesen, dem ich vertraut hatte. Von den Forschern, die mich täglich auf die ein oder andere Art folterten, hatte ich wenigstens gewußt, daß ich für sie nur Forschungsobjekt war.

Der Tag, an dem mir Jorian das erste mal schrieb, war der schwärzeste Tag meines bisherigen Lebens. Sie hatten meine kleine, dunkelbraune Tochter, die noch nicht einmal ein Jahr alt war, in die Fremde verkauft und mir noch nicht einmal verraten, was mit ihr geschehen würde. An diesem Tag rief mich der Forscher, der in den letzten Tagen mein Kreislaufsystem untersucht hatte, in seinen Computer schauen. Ich war überrascht, denn obwohl in meinen Unterlagen stand, daß ich lesen und schreiben konnte, nahmen die meisten Forscher an, daß ich das ja gar nicht gelernt haben könne, was mir oft Gelegenheit gab, unbeaufsichtigt ihre Forschungsunterlagen zu lesen. Dieser aber zeigte mir eine Mail und sagte, daß sie für mich sei.

Ich legte mich aufrecht hin, damit der Monitor auf Augenhöhe war und las die Mail durch. Sie war tatsächlich an mich gerichtet und stammte von Jorian, der ebenfalls ein Zentaur war. Er schrieb mir, daß er mich kennenlernen wollte und wenn ich einverstanden wäre, würde er mir unter dem Vorwand einer Forschungsarbeit einen eigenen E-Mailaccount einrichten und dafür sorgen, daß ich jederzeit Zugang zu einem eigenen Computer hätte, damit wir uns schreiben könnten. Er würde natürlich nichts ohne meine Erlaubnis veröffentlichen. Er wüßte ja, wie es ist, ständig als Forschungsobjekt herhalten zu müssen. Mit dem Mailaccount könnte ich frei im Internet surfen und wäre nicht nur auf die Mails mit Jorian beschränkt. Ich stimmte zu, denn ein eigener Computeranschluß war für mich ein wirklich verlockendes Angebot.

Wir tauschten in der Folge viele Mails - und je mehr ich über ihn erfuhr, desto mehr beneidete ich ihn. Er war in einen Gestüt aufgewachsen, wo er mindestens einmal am Tag nach Herzenslust galloppieren konnte - hier war nirgendwo der Platz dazu. Er hatte viele Freunde, von denen er gerne erzählte und eine Arbeit für die er richtig bezahlt wurde.

Übrigends fand er heraus, daß meine Tochter an ein Gestüt verkauft worden war. Ich hätte mir Schlimmeres vorstellen können, doch beruhigt war ich noch lange nicht. Sie war einfach noch zu jung, um ohne Mutter auskommen zu können - und ich wußte ja, wie herzlos Menschen sein können.

Jorian erzählt:
An dem Tag, an dem Kataira kommen sollte, war ich nervös. Lange hatte ich darauf hingearbeitet, mich mit ihr geschrieben, sie so kennengelernt und schließlich ihr Einverständnis für den Kauf eingeholt.

Jetzt endlich würde ich die Zentaurenstute, die ich heiraten wollte, zum ersten mal sehen. Wir kannten Bilder und Filme voneinander - davon gab es schließlich mehr als genug in den Forschungsarchiven - trotzdem bildete ich mir ein, daß sie mich sicherlich nicht mehr mögen würde, sobald sie mich richtig kennenlernte. Ich wußte, daß das Unsinn war - aber ich konnte mich dieses Gedankens einfach nicht erwehren.

Schließlich öffnete sich das Tor und sie kam herein. Ich galloppierte ihr ein Stück entgegen und blieb dann zögernd stehen, denn sie war in Tränen ausgebrochen. Im Schritt ging ich die letzten paar Meter und nahm sie in die Arme.

Mein Sohn kam zögernd her.
"Papa, weint sie wegen mir?" fragte er.
"Nein. Bestimmt nicht. Du hast doch gar nichts getan." antwortete ich.
"Aber sie hat mich angeschaut und dann hat sie angefangen zu weinen!" sagte er.
"Trotzdem liegt das nicht wirklich an dir. Ich erkläre es dir später, ja?"

Ich konnte mir denken, woran es lag. Kurz nachdem ich sie kennengelernt hatte, hatte sie einen Sohn bekommen - einen wunderschönen gescheckten Jungen. Und er war verkauft worden, kurz bevor sie hierhergebracht wurde. Ich hatte versucht, es zu verhindern - aber die Forscher hatten zu viel Geld für das Recht geboten, ein Zentaurenfohlen sezieren zu dürfen. Und Kataira ist nicht die Sorte Frau, vor der man solche Tatsachen geheimhalten kann. Über eine Stunde hielt ich sie in den Armen und streichelte ihre lange weiße Mähne. Um mir denken zu können, wie sie sich fühlte, mußte ich mir nur vorstellen, sie hätten eines meiner Kinder verkauft.

Als sie schließlich vor Erschöpfung einschlief, ging ich zu den Kindern. Zitar, mein schwarzer Sohn und Mara, meine fuchsrote Pflegetochter unterhielten sich leise über die weiße Zentaurenstute, verstummten aber, als sie mich sahen, ehe ich mehr als nur das Gesprächsthema aufgeschnappt hatte. Wahrscheinlich war es nicht sehr schmeichelhaft.
"Zitar, ich hatte dir versprochen, dir zu erzählen, warum Kataira so weint."
"Ja. Du hast gesagt, wir bekommen eine richtige Mama und keine Heulsuse." beschwerte er sich.
"Was würdest du denn sagen, wenn sie Mara verkaufen würden, an einen Platz wo man ihr nach und nach alle Arme und Beine abschneidet und dann den Bauch aufschneidet, bis sie tot ist?"
Zitar warf mir einen Blick voller Entsetzen zu.
"Das wird nicht passieren. Wir haben einen Arbeitsplan an die Regierung geschickt, der festlegt, daß ihr zehn Jahre bei uns bleiben dürft und einen Beruf erlernt und er ist genehmigt. Danach seid ihr zu wertvoll für so etwas. Aber Kataira hat einen Sohn bekommen, mit dem haben sie das gemacht."
"Aber warum? Haben Menschen einen Gendefekt, daß sie so etwas tun?" fragte Mara.
"Nein. Ich glaube, die Reichen kümmern sich nicht richtig um ihre Kinder und deshalb sind sie ein bißchen komisch, fast wie Elis. Nur würde niemand so dumm sein, Elis über das Leben vieler hundert Menschen und Nichtmenschen entscheiden zu lassen." erklärte ich.

Die Idee stammte von Gats. Irgendwann hatte ich erwähnt, daß mich das gefühllose Verhalten von Elis, irgendwie an das Verhalten mancher reicher Menschen erinnert. Daraufhin meinte er, daß es wohl auch ähnliche Gründe hätte. Daß Reiche sich nicht selber um ihre Kinder kümmern und sie jedes Jahr einem anderen Kindermädchen anvertrauen, das sich nicht mehr für die Kleinen interessiert als ein Wissenschaftler für sein Forschungsobjekt, wäre ja auch eine Form der Vernachlässigung. Danach dachte ich über meine Kindheitsfreundin Karima nach und mußte ihm recht geben. Bis zu ihrem dritten Lebensjahr hatte sie eine Amme gehabt, die sie wohl geliebt hatte wie ein eigenes Kind. Danach wurde diese Frau verkauft, da Karimas Vater allen Ernstes meinte, seine Tochter bräuchte die Amme nicht mehr. Da er selbst und seine Frau sich kaum persönlich um das Mädchen kümmerten, hatte sie danach nur noch ständig wechselnde Dienstmädchen als Bezugspersonen. Und es war kaum zu übersehen, daß diese Frauen meine verwöhnte Freundin nicht mochten. Ich war ihr einziger richtiger Freund. Erst meine Reitlehrerin hat dem einsamen Mädchen wieder richtige Liebe geschenkt und nicht nur ich - auch Karima ging dann mit all ihren Kümmernissen zu dieser Frau.

Am nächsten Morgen unterhielt ich mich mit Kataira über die Arbeit. Sie wollte nicht arbeiten, nur weinen - doch ich überzeugte sie mit dem Argument, daß sie ja wieder schwanger sei und in zehn Jahren, wenn ihr Kind alt genug sei, um verkauft zu werden, sicherlich das Geld haben wolle, um notfalls den Unterschied zwischen dem höchsten und dem zweithöchsten Angebot zahlen zu können, damit ihr Kind in eine gute Arbeitsstelle verkauft würde.

Tatsächlich hatte ich dabei vor allem psychologische Hintergedanken. Aus der wissenschaftlichen Forschung wußte ich, daß Menschen den Verlust eines Kindes am ehesten verkraften, wenn sie viele gute Freunde und ein erfülltes Leben haben. Und Arbeit ist nicht nur eine gute Ablenkung - meiner Erfahrung nach, war es auch die beste Gelegenheit, neue Freundschaften zu schließen. Außerdem bat ich Kataira, meine Kinder zu unterrichten - das würde sie ständig an ihr totes Kind erinnern und wäre deshalb sicherlich sehr schmerzhaft für sie - aber so würde sie sich auch ausreichend mit dem Problem auseinandersetzen, um es überwinden zu können. Und sie würde ja in einem halben Jahr ein neues Kind bekommen, das eine richtige Mutter brauchte und nicht eine Frau, die über ihrem toten Kind das lebende vergißt. Eine Psychotherapie - das wußte ich - würde Kataira nicht akzeptieren.

Ich hatte eine psychotherapeutisch ausgebildete Assistentin, der ich solche Aufgaben gerne anvertraute, weil sie eine Frau mit Herz war, die die, die sie bisher in Behandlung hatte, zu selbstbewußteren Menschen - oder Nichmenschen - gemacht hatte. Ich finde sie sehr sympathisch und bin selbst bei ihr in Behandlung wegen meiner Alpträume vom Regenerator. Von ihr stammte auch die Idee, daß ich ja meine Stellung als stellvertretender Institutsleiter ausnutzen könnte, um mir eine passende Frau an Land zu ziehen.

Adeira, Psychologische Assistentin:
Die Zentaurenstute die Jorian für sich selbst an Land gezogen hatte, war eine beeindruckenden Frau. Wie Jorian war sie intelligent und kannte die Fachliteratur über Zentauren besser als viele Wissenschaftler, die in diesem Gebiet arbeiten.

Anders als er war sie jedoch eher depressiv als wütend. Und ich dachte zuerst, daß Jorian sie mit seiner Therapie durch Konfrontation mit allen Problemthemen wahrscheinlich überfordert.

Aber Kataira erwies sich als fast so hat im Nehmen wie Jorian selbst - und war ein echter Gewinn für das Institut. Sie kümmerte sich um die Erziehungsplanung der im Institut entwickelten Nichtmenschen und leistete dabei außerordentliches. Sie gründete ein Hauseigene Schule in die jedes gentechnisch erzeugte Kind gehen mußte, das dem Institut gehörte und Mitarbeiter durften ihre Kinder gegen eine Gebühr dort anmelden.

Unter ihrer Aufsicht wuchsen die gentechnisch erzeugten Nichtmenschen der ersten Generation durchweg zu Erwachsenen heran, die ihren Kindern in Intelligenz und seelischer und körperlicher Gesundheit in nichts nachstanden und die Forschung an den Kindern wurde auf Inhalte eingeschränkt, die diesen nicht wehtat oder ernsthaft schadete.

Kersti

Fortsetzung:
FE10. Kersti: D

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben