Wenn ich eine Leiche finde, zieht mich die wie magisch an. Ich versuche den toten Körper zu flicken und ihn dazu zu bringen, daß er mir gehorcht. Es klappt nicht. Ich tausche Tips mit anderen aus, die auch nach Leichen suchen, um sie zu beleben. Ich versuche es immer wieder und lerne dazu.
Eines Tages finde ich wieder eine Leiche. Sie ist stark beschädigt, doch ich kann die Todeswunde flicken, so daß kein weiteres Blut verlorengeht. Dann repariere ich der Reihe nach die inneren Organe und schlüpfe schließlich hinein. Eine Leiche ist besser als ein Körper aus Lehm oder Staub oder Nebel. Ich hauche ihr neues Leben ein. Ich habe Schmerzen, aber sie sind weniger schlimm, als bei einem Körper aus Lehm oder Staub.
Ich will aufstehen, doch merke ich, daß ich fürchterlich steif bin. Einsetzende Leichenstarre. Es reicht, wenn ich ganz still liege, zum Atmen - also habe ich Zeit, um zu reparieren. Es fühlte sich an, wie ein ganz schrecklicher Muskelkater. Aber es war besser als alles was ich in den letzten Jahrtausenden erlebt hatte. Ich repariere.
Drei Tage später kann ich aufstehen und habe Hunger. Ich weiß nicht, was hier eßbar und was giftig ist. Ich brauche Hilfe, also suche ich nach Menschen. Ich finde einen Mann, der mit einem Speer auf der Jagd ist und spreche ihn an. Er dreht sich zu mir um, starrt mich an, sein Gesicht verzerrt sich vor Entsetzen und er wirft den Speer auf mein Herz. Ich falle um, dann richte ich mich auf die Knie auf, ziehe ich den Speer wieder heraus und heile die Wunde, um kein unnötiges Blut zu verlieren. Das Gesicht des Mannes verzerrt sich noch mehr, so daß es fast nicht mehr menschlich wirkt. Er zieht sein Messer und hackt damit wild auf mich ein, bis nur noch Hackfleisch von meinem Körper übrig ist. Ich weine vor Fassungslosigkeit und Trauer um meinen schönen Körper. Und ich konnte wieder nicht sterben, konnte diesen Haufen Hackfleisch aber auch nicht wieder zu einem funktionierenden Körper zusammenbauen.
Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe, warum er solche Angst vor mir hatte. Mit Sicherheit war ich schuld, daß er mich umgebracht hatte und deshalb mußte ich bestraft werden und hatte diese Schmerzen verdient. Dann wurde mir bewußt, daß man solche Verletzungen, wie ich geheilt hatte, als ich den Körer für mich nahm, eigentlich nicht überleben kann, deshalb hat ihn mein Anblick wohl so erschreckt. Das nächste mal würde ich vorsichtiger sein. Jetzt aber hatte ich wieder ein Problem: Wie könnte ich mich von diesem unbrauchbaren Körper befreien, der mir nur noch Schmerzen einbringen würde?
Nach etwa einer Stunde näherte sich eine Wölfin. Mißtrauisch schnupperte sie an dem rohen Fleisch, das sich immer noch durch meine nutzlosen Atemzüge bewegte. Vorsichtig nahm ich mit ihrem Energiefeld Kontakt auf und bat sie, mich zu fressen. Das würde wieder wehtun - aber ich könnte mich danach sicher befreien. Sie rief ihre Gefährten und gemeinsam fraßen sie mein Fleisch. Ich hielt so gut wie möglich still, obwohl die Schmerzen furchtbar waren. Doch ich hatte recht - als sie schließlich den letzten Markknochen ausgesaugt hatten, war ich frei. Ich bedankte mich und verließ das Rudel auf der Suche nach einer neuen Leiche. Diesmal sollte sie frischer sein. Leichenstarre ist unangenehm.
Es dauerte Monate, bis ich schließlich einen
Sterbenden fand. Ein Löwe hatte ihm den
Hals aufgerissen. Ich setzte mich daneben
und wartete. Es dauerte nicht lange, bis er
tot war und seinen Körper verließ. Sobald
er draußen war, konnte er mich sehen und
starrte mich erstaunt an.
"Was machst du hier?" fragte er.
"Ich will deinen Körper haben." antwortete ich.
"Aber warum? Der tut doch nur weh!"
"Schmerzen habe ich sowieso. Wenn ich einen Körper habe, wird es
besser. Darf ich ihn nehmen?" fragte ich.
"Nimm ruhig." antwortete er.
"Danke."
Ich heilte die schlimmsten Verletzungen und trat in meinen neuen Körper ein. Diesmal war es besser. Keine Leichenstarre, nur ein leichtes Schwächegefühl, weil ich zu viel Blut verloren hatte und Schmerzen in den Wunden. Ich öffnete seinen Beutel mit Wegzehrung und aß. Dann ging ich zum nächsten Bach und trank.
Da ich keine Ahnung vom Leben in der Wildnis hatte, hielt ich mich die nächste Zeit mit kleinen Diebstählen über Wasser. Nur selten entdeckte ich Pflanzen, bei denen ich mir wirklich sicher war, daß sie eßbar sind. Ich achtete sorgfältig darauf, daß niemand mich sah und erst recht keiner erkannte, daß ich die Narbe einer Todeswunde trug.
Dennoch wurde ich bald entdeckt und verfolgt, von mehreren Pfeilen verwundet und nur meine übermenschliche Ausdauer rettete mich davor, von ihnen gefangen zu werden. Sobald ich mich sicher fühlte, hielt ich an, stellte fest, daß die Pfeile einen richtig lebenden Menschen längst umgebracht hätten und heilte die Wunden. Die Schmerzen waren dadurch mehr geworden, Narbenschmerzen eben, aber es war weitaus besser, als ohne Körper. Ich traute mich nicht zurück zu dem Dorf, sondern suchte nach neuen Häusern.
Immerhin kannte ich inzwischen ein paar eßbare Pflanzen, so daß mein Körper nicht auch noch seinen Hunger durch heftigen Schmerz mitteilte.
Ich lernte immer besser schleichen. Meine größere Erfahrung mit dem wilden Leben erlaubte es mir inzwischen, den Menschen eine Gegenleistung für das zurückzugeben, was ich ihnen ohne zu Fragen wegnahm. Beispielsweise gab es da eine kleine Familie, der ein starker Mann fehlte. Wenn ich dort etwas klaute, brachte ich große Mengen an Brennholz dahin, denn Lebensmittel sammelten sie genug.
Ich sehnte mich nach menschlicher Gesellschaft, doch jedesmal, wenn mich jemand sah, griff er sofort nach den Waffen. Ich war stärker als sie - kam aber einfach nicht auf den Gedanken, daß ich mich hätte wehren können - jedesmal, wenn ich in diese Richtung denken wollte, bekam ich grausame Angst, vor etwas, von dem ich nicht wußte, was es war, doch es war unsäglich schrecklich.
Wenn ich nicht schnell genug war, schlugen sie mich tot. Immer dieselbe Reaktion - erst absolutes Entsetzen bei meinem Anblick, dann ein tödlicher Schlag und wenn ich danach nicht mehr fliehen konnte, schlugen sie so lange auf meinen Körper ein, bis nur noch Hackfleisch übrig war. Ich war jedesmal einfach nur traurig. Danach rief ich Wölfe zuhilfe, damit sie mich von diesen Fetzen befreiten, die einmal ein menschlicher Körper gewesen waren und suchte nach einer neuen frischen Leiche. Ich liebte die Wölfe. Sie halfen mir immer und verletzten mich nie.
Das Inanspruchnehmen einer Leiche war der Diebstahl, den mir die Angehörigen des Toten praktisch immer übel nahmen - und der Tote nie. Höchstens gab er zu bedenken, daß es schwierig für seine Familie sein würde, gab dann aber zu, daß sie seinen toten Körper nicht wirklich brauchten, ich schon. Seit ich wußte, daß man dafür auch die Erlaubnis bekommen kann, wäre ich ohnehin nicht mehr bereit gewesen, ohne Erlaubnis des Besitzers einen Körper zu nehmen. Schuld haben ist schrecklich. Und Geschenke machen keine Schuld. Diebstahl schon. Nichts essen ist auch schrecklich.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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