"Warum hast du ihn nicht umgebracht?" fragte eine Stimme
vorwurfsvoll.
Ich schaute auf und stellte fest, daß ein Mann vor mir stand, der
dem, der mich gefangen hatte, zum verwechseln ähnlich sah. Er hatte
aber eine deutlich andere Ausstrahlung. Gemeiner.
"Warum hätte ich ihn umbringen sollen?" fragte ich sanft
zurück.
"Weil er dich gequält und erniedrigt hat."
"Er meinte, ich könnte ihn nicht umbringen." sagte ich
ruhig.
"Du kannst es aber und das weiß ich. Schließlich habe ich
doch das Märchen mit dem Haar erfunden." erklärte er.
"Dann hat wohl dein Plan nicht so ganz funktioniert." antwortete
ich.
"Du meinst, es funktioniert doch?" fragte er verwirrt
zurück.
"Gewissermaßen." antwortete ich.
Wenn auch nicht in dem Sinne, wie er
meinte. Was daran wunderbar funktionierte,
war nur, daß es dem Mann seine Angst
nahm - und der Rest wäre sowieso kein
Problem gewesen.
"Dann muß ich mir wohl auch ein paar Haare von Dir nehmen." sagte er und griff nach meinen Haaren, ich schnappte nach seinem Handgelenk und drehte es so um, daß er die Hand öffnen mußte.
Es wäre gewiß kein Vergnügen gewesen, den Sklaven eines so gemeinen Menschen zu spielen, nur um unter Menschen leben zu dürfen. Wie kam er dazu, seinem eigenen Bruder eine tödliche Falle stellen zu wollen? Ich wunderte mich darüber, wie ein Mensch es fertigbringen kann, an selbsterfundene Märchen zu glauben.
An diesem Abend vergaß mein neuer Herr mich in der Ecke. - Was zweifellos ein unverzeihlicher Fehler gewesen wäre, wenn das mit dem Amulett mehr als Einbildung wäre. So wartete ich ruhig, daß er wiederkam. Schlafen konnte ich nicht, weil ich nicht sterben konnte.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.