Gefallene Engel


Der Untote

FF7.

"Ich bin schuld."

Und dann wurde der Vater des Mädchens von einem Löwen gerissen. Ich weiß, daß es ein Löwe war, denn ich habe es beobachtet und versucht, ihn zu retten und die Wunde zu heilen - aber es war zu spät, als ich den Löwen mit bloßen Händen vertrieben hatte. Traurig nahm ich den Toten und brachte ihn nach Hause.

Als erstes sah mich das Kind. Es fragte was geschehen sei und ich erzählte die ganze Geschichte und endete mit den Worten:
"Ich bin schuld, daß er tot ist."
Das Mädchen widersprach mir:
"Nein. Das ist nicht wahr. Du konntest doch gar nichts tun."
"Ich bin schuld, ich bin an allem Schuld..." wiederholte ich dumpf....
Ich konnte nicht anders. Es war ein Zwang und wenn ich nicht sagen würde, daß ich schuld bin, würde etwas Fürchterliches geschehen. Ich wußte nicht, was das Fürchterliche sein sollte, aber ich war unfähig diesen Satz wegzulassen.

Ich legte die Leiche vor die Tür der Hütte, in der er gewohnt hatte und blieb dort mit hängendem Kopf stehen. Das Mädchen bettelte mich an, daß ich fliehen solle, damit sie mich nicht auch noch umbringen würden. Doch ich konnte nicht. Ich mußte ja bestraft werden. Sonst würde etwas schreckliches geschehen.

Wenn sie auch nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht hätten, wären die anderen Menschen auch darauf gekommen, daß ich nicht derjenige gewesen sein konnte, der den Mann getötet hatte. Schließlich konnte jeder von ihnen die Spuren von Löwenkrallen und -zähnen von jeder Wunde unterscheiden, die ich verursacht haben konnte. Und jeder von ihnen konnte sehen, daß ich ebenfalls verletzt war durch Löwenkrallen. Aber da ich selbst sagte, ich sei schuld und die Strafe widerspruchslos als angemessen akzeptierte, dachten sie nicht darüber nach.

Sie sperrten mich in eine Truhe und ich lag darin und weinte. Nicht aus Angst vor der Strafe. Nicht weil sie mich am nächsten Tag zu Tode foltern würden, sondern weil ich von meinem geliebten Kind getrennt werden würde, das die größte Freude in meinem Leben war. Das einzig wirklich Schöne.

Sie kam in der Nacht, schloß die Truhe auf und bat mich, zu fliehen. Ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Ich mußte doch bestraft werden, sonst geschah etwas Schreckliches... Das Mädchen wiederholte, daß ich keine Schuld habe, ich solle doch fliehen. Aber ich konnte nicht, war wie gelähmt.

Am nächsten Morgen holten sie mich heraus, schnitten zuerst die Sehnen an Armen und Beinen durch, so daß ich mich nicht wehren konnte - wozu ich sowieso nicht einmal einen Ansatz gemacht hatte. Ich mußte ja bestraft werden, sonst würde etwas Schreckliches geschehen...

Sie hatten wohl erwartet, daß ich durch ihre Foltern schneller sterben würde. Daß ich mehr schreien würde. Aber ich ließ es nur apathisch über mich ergehen und mein Herz schlug noch tagelang während sie mich zuerst auspeitschten, dann mir jeden Knochen im Leibe brachen mir Nase und Ohren abschnitten, mich häuteten, das Fleisch in Streifen vom Leibe schälten, alles in seine Einzelteile zerlegten... Irgendwann gaben sie es auf, mich töten zu wollen und warfen mich irgendwo in den Wald. Ich rief die Wölfe und sie fraßen das Fleisch und zernagten die Knochen, bis nichts mehr davon übrigblieb. Dann endlich konnte ich den Körper verlassen. Erleichtert, den dauernden Schmerzen entronnen zu sein, machte ich mich auf die Suche nach einer frischen Leiche, denn der Körper vom Vater des Mädchens war längst zu alt, um noch verwendbar zu sein.

Es dauerte Monate, bis ich etwas Passendes fand und in Besitz nahm. Leider fehlte der rechte Arm, aber daran konnte ich halt nichts ändern. Es ist nun einmal so, daß ich nur die Körper bekam, die der Besitzer als unbrauchbar verlassen hatte. Und ein solcher Körper war nie in Ordnung.

In der ganzen Zeit ging mir der Satz des Mädchens im Kopf herum:
"Du bist nicht schuld."
Er brachte mich ziemlich ins Grübeln, denn ich wußte ja, wann jemand normalerweise der Ansicht war, an etwas schuld zu sein. Und daß niemand anders an meiner Stelle gesagt hätte, daß er schuld wäre. Ich brachte es nicht fertig, diesen Gedanken zuende zu denken. Ich fühlte mich wie gelähmt, wann immer ich das versuchte. Aber er war da und änderte etwas für mich. Und doch hatte ich immer noch das Gefühl, an allem Schuld zu sein.

Dann kehrte ich zurück zu den Häusern, bei denen mein Mädchen lebte. Ich hielt Abstand, achtete darauf, von niemanden gesehen zu werden und wartete auf den Augenblick, wo ich sie alleine fand.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


FF8. Kersti: Folgendes: Retias Heirat
FF6. Kersti: Voriges: Das Kind
FFI. Kersti: Inhalt: Gefallene Engel
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
Sonstiges
Kersti: Hauptseite
Kersti: Suche und Links
Kersti: Über Philosophie und Autorin dieser Seite

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/     E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.