Als der Herr einmal durchs Dorf ging und sich alle Leute vor ihm möglichst unauffällig versteckten, ging ich zu ihm hin und sagte ihm, wer ich war. Er freute sich, mich zu sehen und zu erfahren, daß ich bei meiner neuen Mutter glücklich war. Noch glücklicher als bei den Affenmenschen, denn mit ihr konnte man über vieles richtig reden. Vor seinen sadistischen Neigungen war ich jetzt sicher, das wußte ich, denn er hatte versprochen, daß er mir keinen Schaden zufügen würde, der über mein erstes Leben in den Sklavenpferchen hinauswirkte - und er hält seine Versprechen. Meine Mutter war nachher sehr böse mit mir, weil sie nicht glauben wollte, daß er mir nichts tut.
Sobald ich mir den Weg zutraute, schlich ich mich hoch zum Gutshof und besuchte meine Frau aus meinem ersten richtigen Leben und meinen Sohn regelmäßig. Natürlich war ich jetzt noch jünger als er, aber ich hatte eine eigene Menschenmutter, die mir viele schöne Sachen schenkte und davon brachte ich den beiden etwas mit und redete mit ihnen. Sie freuten sich sehr, zu erfahren, daß es mir tatsächlich gelungen war, als Mensch zur Welt zu kommen. Leider wurden sie beide geschlachtet, bevor ich erwachsen war. Die Dorfjugend fand mein Staunen über die Schönheit von allem, was ich sah, sehr merkwürdig und ärgerte mich deshalb oft. Nur eines der Mädchen war nett zu mir.
Als ich vierzehn war, fing mich der Herr
nach einem dieser Besuche unterwegs ab
und bat darum, mit mir sprechen zu dürfen.
Selbstverständlich willigte ich ein. Er führte
mich zu der Hütte mit den vier Türen, bot
mir Tee an und setzte sich dann zu mir.
"Weißt du, ich habe keinen Erben. Da dachte ich, daß
ich dich ja adoptieren und dir beibringen kann, wie man Untoten das
Sterben ermöglicht. Und dann kannst du meinen Hof übernehmen
wenn ich sterbe und dich um alle kümmern, die hierherkommen, um
Hilfe zu finden."
Ich sah ihn aufmerksam an, erspürte, wie ernst es ihm war, und
wußte, daß ich es fordern konnte:
"Unter einer Bedingung: du folterst und schlachtest keine Leute
mehr. Weder Untote, noch Affenmenschen, noch Menschen."
Er sah mich eine Weile schweigend an, ehe er antwortete:
"Gut. Ich tue was du sagst."
Ich lächelte, umarmte ihn und sagte:
"Danke. Damit erfüllst du mir meinen größten
Wunsch."
"Dann können wir deinen Eltern ja bescheid
sagen, daß du jetzt bei mir wohnst."
Gemeinsam gingen wir ins Dorf und verkündeten die Neuigkeit und ich zog in das schöne Zimmer in seinem Haus, das er extra für mich hatte einrichten lassen.
Es folgte eine sehr glückliche und sehr arbeitsreiche Zeit. Ein
neuer Untoter war gekommen, und ich hatte die Aufgabe die Stangen, die
sein Energiefeld an den Leichenkörper fesselten, unter Anleitung
meines Lehrers so gründlich abzuschirmen, daß er sterben und
als Kind eines der Affenmenschenfrauen zu Welt kommen konnte.
"Affenmenschen sind körperlich robuster als Menschen, deshalb
nehmen wir sie als Mütter für unser erstes Leben. Dann
können wir schon richtig zur Welt kommen, lange bevor das bei
einer menschlichen Mutter möglich wäre." erklärte
er.
Raidis, mein Herr ließ mir keinerlei Freizeit, denn er wollte mir
wirklich alles beibringen, was er konnte. Das war sehr viel mehr als
die meisten Magier in ihrem Leben lernten und er war schon alt.
Außerdem erwartete er, daß ich zwischendurch noch Zeit fand,
mit meinem Schützling ausgiebig zu sprechen, damit er unter den
Affenmenschen, unter denen er lebte, nicht zu einsam war.
"Das Affenmenschensozialsystem ist einfacher
als das der Menschen. Deshalb wäre es für
ihn eine Überforderung, wenn er jetzt schon
unter Menschen leben würde." erklärte mir
Raidis.
So kam ich nicht dazu an meine Freundin zu denken, bis ich ihr irgendwann auf dem Weg vom Affenmenschenpferch zum Wohnhaus begegnete.
Verblüfft blieb ich stehen, denn ich hätte nicht damit gerechnet, daß sie mich sucht. Dann nahm ich sie stürmisch in die Arme. Sie hatte befürchtet, daß der Herr mir etwas zuleide getan hätte - und ich konnte ihr schlecht erklären, warum meine neue Arbeit für mich so wichtig war, ohne ihr zu erzählen, wie es gewesen war, ein Untoter zu sein. So erzählte ich ihr am Ende so viel von meinen Erinnerungen, daß der Herr sich auf die Suche nach mir machte, weil er dachte, mir könnte irgendetwas passiert sein, daß ich nicht zu ihm kam.
Er entdeckte mich in der Hütte mit den vier unverschließbaren
Türen und war erstaunt.
"Was macht denn das Mädchen hier?" fragte er.
"Das ist meine Freundin und du wirst ihr nichts tun und sie zu
nichts zwingen - auch nicht dazu, mir treu zu sein." forderte ich
sofort entschieden.
"Gut. Willst du sie heiraten?" sagte er.
"Sag mal warum redest du denn so mit deinem Herrn? Du kannst ihm
doch keine Befehle geben!" fragte meine Freundin.
"Das stimmt. Und er ist mein Freund." antwortete ich.
"Aber vertraust du ihm denn nicht?" fragte sie verwirrt.
"Ich vertraue, daß er seine Versprechen hält,
aber er ist kein guter Mensch." antwortete ich.
"Aber..." ihre Verwirrung nahm stetig zu.
"Vielleicht sollte ich mal erzählen, warum er meint, daß
ich kein guter Mensch bin." unterbrach der Herr sie mitten im
Satz.
Dann erzählte er, wie er mir befohlen hatte,
mir selbst die Haut abzuziehen und mich
auszunehmen und wie ich diesen grausamen
Befehl gehorsam ausgeführt hatte. Bei der
Erinnerung daran, krampfte sich in mir alles
zusammen.
"Aber das ist doch nicht wahr!" protestierte meine Freundin,
die sich solche Graunsamkeiten nicht vorstellen konnte.
"Schau ihn an." wies er sie auf meine völlig
verkrampfte Körperhaltung hin.
Sie betrachtete meine Fäuste, die ich so fest geballt hatte,
daß sie ganz weiß waren, mein leichenblasses Gesicht und
die verkrampften Lippen, die ich mir bei der Erinnerung an diesen
letzten Tag jenes Lebens blutig gebissen hatte und wußte, er
hatte die Wahrheit erzählt.
"Untote sind merkwürdig. Ich habe sie jeden Tag gefoltert, sie
am Ende ihres Lebens zu Tode gefoltert, ihnen nie ein freundliches
Wort gesagt - und doch sind sie mir immer noch dankbar, daß ich
sie von ihrem Fluch erlöst habe. Ohne jeden Groll für alles
was ich falsch gemacht habe. Und er liebt mich immer noch und sagt er
ist mein Freund. So etwas hat vor ihm niemand zu mir gesagt."
sagte der Herr in leise in einem merkwürdig versonnen Tonfall.
"Aber jetzt habe ich ihm versprochen, daß ich das nicht mehr
mache und ich halte meine Versprechen. Werdet ihr heiraten?"
"Ja." sagte meine Freundin - "Wenn du mich willst."
"Ja." sagte auch ich.
"Dann werde ich alles in die Wege leiten." versprach er.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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