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M9.
Eines Tages - ich war inzwischen neunzehn jahre alt - hatte mich meine
Mutter wieder einmal mit Steinen beworfen und als Kind eines Teufels
beschimpft. Ich ging zu meiner Tante hinüber, brachte ihr einige
Kräuter, um die sie mich für eine kranke Kuh gebeten hatte
und erzählte ihr von meinem Kummer.
"Kannst du mir erklären, warum meine Mutter mich so
schrecklich haßt? Ich habe ihr doch wirklich nichts
getan."
"Weißt du das nicht? Deine Mutter ist einmal von einem
Fremden vergewaltigt worden. Als sie dadurch schwanger wurde, hat
ihr Mann sie fast täglich verprügelt und ihr gesagt, er
würde das Kind schon aus ihr herausprügeln. Sie hat sich
damals immer bei mir ausgeheult.
Er hat sich später entschuldigt und seither ist dergleichen
zwischen den beiden nicht wieder vorgekommen. Aber deine Mutter war
nachher nie wieder dieselbe."
Als ich mir vorstellte, wie sehr meine
Mutter hatte leiden müssen, konnte ich
nur weinen.
"Ich bewundere dich. Weißt du, ich habe mir oft gedacht, du
bist zur Welt gekommen, weil der liebe Gott deiner Mutter zum Trost
für das ganze erlittene Unrecht einen kleinen Engel schicken
wollte. Und sie hat es nicht einmal gemerkt. Wie kommt es nur,
daß du so ein liebes Kind geworden bist, obwohl deine Mutter
dir nur Böses getan hat?"
Ich dachte darüber nach und lächelte
ihr spitzbübisch zu:
"Weißt du, das Leben ist hart, grausam und ungerecht. Aber
das heißt noch lange nicht, daß wir Menschen
auch so werden müssen."
Sie lachte über meine Antwort.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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