erste Version: 1/2004
letzte Bearbeitung: 6/2016

VA152.

Wie das abgebrochene Studium mein Weltbild verändert hat

Inhalt

VA152.1 Kersti: Mein Bild von der Wissenschaft, bevor ich begonnen habe zu studieren
VA152.1.1 Kersti: Vor dem Studium hatte ich doch ein recht merkwürdiges Bild von der Wissenschaft
VA152.1.2 Kersti: Der Beitrag der Schule dazu, daß ich Wissenschaft nicht als Wissenschaft erkannt habe und nichtwissenschaftliches für Wissenschaft hielt
VA152.1.3 Kersti: Der Beitrag der Beschäftigung mit alternativen Themen dazu, daß ich Wissenschaft nicht als Wissenschaft erkannt habe und nichtwissenschaftliches für Wissenschaft hielt
VA152.2 Kersti: Das erhellende Erlebnis des Studierens: Wissenschaft ist spannend
VA152.2.1 Kersti: Gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium: Nur 3-5 Quellen? .... aber das geht doch nicht!
VA152.2.2 Kersti: Alternative Standpunkte, die Unibibliothek und Wikipedia: Wissenschaft ist ganz anders!
VA152.3 Kersti: ADHS: Studieren macht mich krank und ich hatte guten Grund, die Schule so zu hassen
VA152.3.1 Kersti: Legasthenie
VA152.3.2 Kersti: Lärmstreß
VA152.3.3 Kersti: Hyperfocussieren
VA152.3.4 Kersti: Über die Gesundheitsschädlichkeit des Studiums bei ADHS
VA152. Kersti: Quellen

 
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1. Mein Bild von der Wissenschaft, bevor ich begonnen habe, zu studieren

1.1 Vor dem Studium hatte ich doch ein recht merkwürdiges Bild von der Wissenschaft

Aus meiner heutigen Sicht, hatte ich vor meinem Studium doch ein recht merkwürdiges Bild von der Wissenschaft und ich frage mich, warum ich das nie genug hinterfragt habe, um mir darüber klar zu werden, daß es Unsinn ist.

Es gab zwei Hauptfaktoren, die zu diesem Bild beigetragen haben. Der eine war die Schule, der zweite meine Beschäftigung mit Feminismus, Umweltschutz, alternativer Medizin, mit spirituellen Themen und jeglichem anderen ausgefallenen Thema, über das ich zufällig stolperte.

Mit diesen ausgefallenen Themen habe ich mich hauptsächlich aus Wissenshunger beschäftigt. In normalen Bibliotheken und Buchhandlungen werden konventionelle Theman so oberflächlich behandelt, daß man ziemlich schnell nichts Interessantes mehr dazu findet, wenn man viel liest und hohe Ansprüche an den inhaltlichen Tiefgang stellt. Autoren von Büchern über ausgefallene wissenschaftliche Themen wenden sich dagegen normalerweise sowohl an Wissenschaftler als auch an interessierte Laien, um so insgesamt ein breiteres Puplikum zu haben. Also findet man als Nichtwissenschaftler in diesem Bereich leichter hochwertige Literatur.

 
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1.2 Der Beitrag der Schule dazu, daß ich Wissenschaft nicht als Wissenschaft erkannt habe und nichtwissenschaftliches für Wissenschaft hielt

Der Beitrag der Schule bestand in einigen von Lehrern kommenden Aussagen über die Wissenschaft wie den folgenden:
Die Schule vermittelte mir insgesamt den Eindruck, Wissenschaft wäre irgenwo weit weg, wo der normale Mensch nie hinkommt und auf diesem Elfenbeinturm würden sie lauter Unsinn forschen, für den sich kein normaler Mensch interessiert.

 
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1.3 Der Beitrag der Beschäftigung mit alternativen Themen dazu, daß ich Wissenschaft nicht als Wissenschaft erkannt habe und nichtwissenschaftliches für Wissenschaft hielt

Es ist mir immer noch schleierhaft, warum ein Gymnasium - ich habe 1990 Abitur gemacht - nicht standartmäßig lehrt, woran man wissenschaftliche Literatur erkennt, wenn man drüber stolpert und sie liest. Tatsache ist: Wir haben es nicht gelernt, sonst hätte es nicht passieren können, daß ich mir das folgende Bild von der Wissenschaft mache.

Zuerst im Zusammenhang mit Umweltschutz und danach mit Feminismus, spirituellen Themen und zuletzt im Rahmen meiner Beschäftigung mit alternativer Medizin bekam ich ein sehr merkwürdiges Bild der Wissenschaft: Ich las sehr interessante und gut belegte Bücher und Artikel, die diverse zum Mainstream der Wissenschaften alternative Standpunkte belegten. Wann immer ich im Zusammenhang mit diesen Themen von Menschen hörte, die im Brustton der Überzeugung behaupteten, die Wissenschaft zu vertreten, trugen sie mit großem Eifer ihre konventionellen Überzeugungen vor, waren aber nicht in der Lage, diese zu begründen und zu erzählen, durch welche Fakten ihre Überzeugungen gestützt wurden. Außerdem erzählten die Forscher, die zu "der Wissenschaft" alternative Meinungen vertraten, von Diskriminierung, persönlichen Angriffen, klaren Rechtsbrüchen bis hin zu Morddrohungen.

Folglich entstand in mir das Bild, daß Wissenschaftler bornierte vorurteilbehaftete Dummköpfe wären, die von nichts eine Ahnung hätten. Und ich schloß: Was interessant ist, kann keine Wissenschaft sein.

Heute weiß ich, daß die besten Wissenschaftler es einmal nicht für nötig halten auch nur zu erwähnen, daß ihre Bücher Wissenschaft sind. Sie achten eher darauf, sich möglichst gut verständlich zu machen, damit ihnen die anderen Wissenschaftler folgen können und ihre Experimente und Quellen ausführlich genug zu beschreiben, daß man prüfen kann, ob ihre Meinung stichhaltig ist und die Fakten auch andere Deutungen zulassen. Ein guter Wissenschaftler überzeugt durch die Qualität seiner Argumentation und muß nicht ständig betonen, daß er "die Wissenschaft vertritt" - abgesehen davon weiß er eben auch, daß er eine eigene Meinung hat, mit denen andere Wissenschaftler nur teilweise konform gehen, so daß er weder so völlig überzeugt von der Richtigkeit seiner Meinung sein kann, noch im Brustton der Überzeugung behaupten kann, "die Wissenschaft" zu vertreten. Leute die ich nicht(!) der Wissenschaft zugeordnet hatte, weil sie unkonventionelle und spannende Meinungen vertreten haben und deren Texte mir aber sehr gefallen hatten, weil ihre Argumentation mich überzeugte, hatten in den meisten Fällen einen Doktortitel oder sogar mehrere und viele von ihnen lehrten als Professoren an verschiedenen Universitäten! Das ist mir - obwohl es ausdrücklich in den Büchern stand - nicht einmal aufgefallen, weil ich die Bücher ausschließlich danach ausgesucht habe, wie fundiert und differenziert mir ihre Argumentationsweise erschien. Ich habe es meist erst im Studium bemerkt, weil ich da prüfen mußte, ob ich die Bücher als Quellen verwenden kann.

 
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2. Das erhellende Erlebnis des Studierens: Wissenschaft ist spannend

2.1 Gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium: Nur 3-5 Quellen? .... aber das geht doch nicht!

Zu einem Lehramtsstudium gehört in Kassel neben dem Fachstudium auch ein gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium, bei dem man eine bestimmte Anzahl an Seminaren oder Vorlesungen besuchen muß, und einige Hausarbeiten schreibt. Welche Veranstaltungen man besucht und wo man seine Hausarbeiten schreibt, kann man sich relativ frei auswählen. Ich fragte gleich bei der Einführungsveranstaltung nach, ob man denn wie empfohlen eine Einführungsvorlesung besuchen muß, oder ob man auch gleich in ein richtiges Seminar gehen darf. Man durfte sich das frei auswählen. Die Antwort erfreute mich. Dann mußte ich mir nichts langweiliges anhören!

Ich las mir also das Vorlesungsverzeichnis durch und strich alles an, was mir interessant schien. Die interessantesten mit meinem sonstigen Stundenplan vereinbaren Seminare besuchte ich probehalber und fragte ob ich da die Hausarbeit schreiben konnte, die mir dazu eingefallen war und suchte mir schließlich aus jedem der Bereiche, die ich abdecken mußte, das Beste aus.

Dabei erkundigte ich mich natürlich auch nach den Anforderungen an Quellen und prüfte nach, ob die Bücher aus meinem privaten Bücherregal, die mir spontan zum Thema eingefallen waren, diesen Anforderungen genügten. Das taten sie durchweg. Ich habe, seit ich vierzehn war, mit Vorliebe wissenschaftliche Literatur gelesen, nur leider gab es davon in meinem Umfeld nicht ganz so viel, wie ich gerne gehabt hätte! Ich war verblüfft. Und natürlich schaute ich auch noch mal in die Unibibliothek. Da standen soooo viele spannende Bücher die ich unbedingt lesen mußte - Universitätsbibliotheken sind definitiv ernsthaft rückenschädigend. Heute gehe ich da nur noch mit meinem Wanderrucksack mit Innentraggestell hin, damit ich nicht jedes mal, wenn ich die Kasseler Unibibliothek besuche, Rückenschmerzen kriege, weil ich mal wieder viel zu viele Bücher mitnehmen mußte!

Und ich konnte unmöglich so wenig Quellen angeben, wie erwartet wurde: Wie bitteschön soll man mit 3-5 Büchern das belegen, was ich in meine Hausarbeit schreiben will? Ich hatte schließlich immer eine ausgeprägte eigenen Meinung und in so einem Fall muß man jede Grundlage auf der man aufbaut, einzeln gut belegen, damit nachvollziehbar ist, warum die eigene Meinung eine vernünftige Schlußfolgerung aus den bekannten Fakten zum Thema ist. Ich landete bei 75-100 Quellen pro Hausarbeit und strich jedes nicht unbedingt nötige Wort heraus, damit ich meine Hausarbeit näherungsweise in die erlaubte Länge quetschen konnte.

Meine Hausarbeiten zum Kernstudium sind folgende:
O2: Kersti: Toleranz als Fähigkeit, OI2.
O3: Kersti: Ist in der Schule das Denken verboten?, OI3.
O4: Kersti: Unterbindet Ausgrenzung in der Schule soziales Lernen?, OI4.
O6: Kersti: Hochbegabung als Verständigungshindernis, OI6.
Doch mit der Seminararbeit zur Ökologie, die ich schrieb, ging es mir ganz ähnlich, nur daß ich Jahre brauchte, bis der daraus entstanden Anfall von Forscherwut abflaute!
O5: Kersti: Inseltheorie: Zuwanderung, Aussterben und Evolution auf Inseln, OI5.

Also fand ich heraus: Wissenschaft ist definitiv nicht unverständlich, wissenschaftliche Literatur ist die einzigen Literatur mit einigermaßen erträglichem Niveau!

 
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2.2 Alternative Standpunkte, die Unibibliothek und Wikipedia: Wissenschaft ist ganz anders!

Wie ich weiter oben schon schrieb, sind Unibibliotheken ernsthaft rückenschädigend. Egal aus welchem Grund ich mich egal in welche Bereichsbibliothek wagte, grundsätzlich brauchte ich nur an einem Regal vorbeigehen und flüchtig die Titel zu überfliegen, um gleich einen ganzen Stapel Bücher in der Hand zu haben. Gewöhnlich definitiv zu viele, um sie alle mitzunehmen. Also sortierte ich nachher noch einmal aus und stellte mindestens die Hälfte schweren Herzens zurück ins Regal.

Wenn so eine interessante Bibliothek so verlockend nah ist, ist es natürlich völlig unmöglich, sich auf die durch das Studium vorgegebenen Themen zu beschränken. Schon vor dem Studium hatte ich mehrfach die medizinische Bereichsbibliothek besucht und dort Bücher ausgeliehen. Auch in der Murhardschen war ich vor dem Studium diverse Jahrgänge an Pflichtexemplaren von Büchern durchgegangen und hatte mir alles durchgelesen, was mir näherungsweise interessant erschien.

Im Studium wurde es dann richtig schlimm - jedes Thema das mich jemals interessiert hatte, verleitete mich mehrfach zu einer Bibliotheksrecherche in der Unibibliothek und jedesmal las ich zig Bücher dazu durch.

Noch schlimmer wurde das nach dem Studium durch Wikipedia, die tatsächlich höhere Anforderungen an Quellen stellt, als sie im Studium gestellt wurden: Durch Wikipedia fand ich heraus, daß ein erheblicher Teil der aktuellen Forschung kostenlos im Internet zu finden ist und mußte das natürlich alles durchlesen. Zumindest den Teil, der mich aus irgendwelchen rätselhaften Gründen interessierte.

Dabei stellte ich fest: Wissenschaft ist ganz anders.

Die meisten Wissenschaftler haben natürlich insgesamt relativ konventionelle Meinungen, schließlich bestimmt die Wissenschaft, was als konventionelle Meinung gilt. Aber diese vernagelte Arroganz, die ich der Wissenschaft zugeordnet habe, ist dort weit seltener zu finden, als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die meisten der ausgefallenen Ideen, die ich für außerwissenschaftlich gehalten habe, obwohl ich die Bücher der Wissenschaftler, die die Theorien ursprünglich aufgebracht hatten, gelesen hatte, wurden in der Wissenschaft durchaus ernsthaft und mit letztlich vernünftigen Ergebnissen diskutiert. Und die Leute die laut "Ich bin Fachmann!" krähen und ihre Meinung nicht begründen können, arbeiten eben nicht in der Wissenschaft oder sind nicht vom Fach.

Das erkläre ich an einem Anfall von Forscherwut zu Nahtoderfahrungen, bei dem ich ehrlich gesagt einfach nicht weiß, was den ausgelöst hat, wenn man mal davon absieht, daß mich spirituelle Themen schon lange interessiert haben.
O7: Kersti: Wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu Tod, Jenseits und Reinkarnation, OI7, OB7: Quellen.
Herr "Totenbettvision"1. war für seine physikalische Forschung geadelt worden und war Mitbegründer der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft zur Parapsychologie, der "Society for Psychical Research".
BG2. Kersti: Society for Psychical Research
Herr "Nahtoderfahrung"2. hat einen Doktortitel in Philosophie und einen weiteren in Medizin, außerdem lehrt er Psychologie am West Georgia College in Carrollton - ist also Dozent an einer Universität. Überhaupt - entgegen der Ansicht der Wissenschaftler, die jeweils nicht vom Fach sind, hat die Parapsychologie immer Ergebnisse geliefert, wo ein klar denkender Mensch sagen müßte, daß ein materialistischer Weltbild offensichtlich nicht alles erklärt.
VA306. Kersti: Spirituelle Erfahrungen: Was sich nicht im Rahmen eines materialistischen Weltbildes erklären läßt
Seit ich angefangen habe, mich da einzulesen, wundere ich mich immer und immer mehr, warum dieses Wissen nicht in die anderen Fächer diffundiert ist!

Auch wenn ich mir die wissenschaftliche Forschung zur Alternativmedizin anschaue, liefert sie durchaus Ergebnisse, wie ich sie mit meinen Erfahrungen erwartet hätte, und diese Ergebnisse werden insgesamt betrachtet auch vernünftig diskustiert.
VA294. Kersti: Inwieweit ist Homöopathie bewiesen und beweisbar?
Rätselhafterweise scheinen die Ergebnisse in den Köpfen der Leute die meinen, den Inbegriff der Wissenschaft zu vertreten, einfach nicht anzukommen. Vermutlich liest von denen niemand die gesamte Diskussion zu einem Thema durch, so daß ihnen die wesentlichen Fakten entgehen und sie nur die ersten Schlußfolgerungen im Kopf behalten, die sich im Laufe der Diskussion als voreilige Deutungen der Ergebnisse erwiesen haben.

Und in der Wissenschaft wird Forschung zu den Schwächen der wissenschaftlichen Forschung getrieben und dazu, welche Bedingungen nötig sind, damit Menschen bestimmte Dinge erfassen können. Und aus deren Ergebnissen habe ich sehr viel darüber gelernt, wie das zustande kommt, was ich früher fälschlicherweise für "die Wissenschaft" gehalten hatte, weil Leute, die nicht wissenschaftlich denken gelernt hatten, mir dieses falsche Bild vermittelt haben.

Für mich besonders erhellend ist eine Verknüpfung von Kohlbergs Moralstufen mit dieser Forschung zu Fehlern in der Wissenschaft.
VB136. Kersti: Der Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft

 
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3. ADHS: Studieren macht mich krank und ich hatte guten Grund, die Schule so zu hassen

Übergeordneter Artikel:
VA238. Kersti: Ist ADHS eine Krankheit?

Meine Schulzeit war eine Erfahrung, nach der ich Jahre brauchte, um zu begreifen, daß ich lernen nicht hasse sondern daß ich lernen immer geliebt habe und immer freiwillig mehr gelernt habe, als andere es erzwungenermaßen tun. Es war eine Erfahrung nach der ich zehn Jahre gedacht habe: "Nie wieder Schule!" - und noch länger brauchte, um herauszufinden, was an der Schule denn so schlimm gewesen war.

 
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3.1 Legasthenie

Bei der theoretischen Physik hatte ich - wie die meisten - Verständnisprobleme, aber die waren dort nicht mein Hauptproblem.

Mein Hauptproblem war dort meine Legasthenie - nach einer Dreiviertelstunde war ich vom Formeln abschreiben so erschöpft, daß ich nicht mehr weiterschreiben konnte. Die Vorlesung ging dann - nach einer Pause - aber eine weitere Dreiviertelstunde weiter. Wenn ich Text statt Formeln hätte abschreiben müssen, wäre das gegangen, aber unnötig gewesen, da ich mir alles auch so hätte merken können. Außerdem konnte ich, wie das in der Grundschule beim normalen Schreiben war, nicht gleichzeitig abschreiben und aufpassen.

Außerdem hatten die Lehrbücher ein Problem - obwohl sie im Prinzip denselben Stoff vermitteln, verwendeten sie andere Buchstaben als Kürzel, es gab aber nirgendwo eine Liste der verwendeten Kürzel, mit denen man das eine problemlos dem anderen hätte zuordnen können.

Wenn man ein richtig ernsthaftes Problem mit dem Abschreiben hat, ist man also beinahe verloren.

Dann kam hinzu, daß es zu dieser Vorlesung Anwesenheitsübungen gab. Von den Vorteilen, die solche Anwesenheitsübungen normalerweise haben, konnte ich nicht profitieren, da ich nach so viel Uni einfach keinen menschlichen Kontakt mehr ertragen konnte und deshalb nicht mit den anderen Studenten reden konnte. Aber sie hatten einen ganz klaren Nachteil: Man hat dort keine Ruhe um sich den Stoff genau anzuschauen und die fehlenden Formeln aus einem Lehrbuch zusammenzutragen, zu prüfen ob man auch die richtigen erwischt hat und die Kürzel richtig zuzordnen.

Nichts desto trotz habe ich den ersten Kurs beim zweiten Versuch dann doch geschafft und das Ganze auch richtig verinnerlicht. Ich habe nämlich kein grundlegendes Problem mit der höheren Mathematik.

 
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3.2 Lärmstreß

Das Studium war bezüglich meines Schulhasses ein wirklich erhellende Erfahrung. Denn während des Studiums tauchten Probleme wieder auf, die ich im Beruf in der gesamten Zeit zwischen Schule und Studium nie in diesem Maße gehabt habe.

Ich war plötzlich wieder ständig auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen - und ich merkte, daß ich in einen Streßzustand kam, der immer schlimmer wurde, je länger ich studierte. Dieser Streßzustand baute sich in den ersten Semesterferien nur teilweise wieder ab und in den späteren Semesterferien hatte ich nicht den Eindruck, mich überhaupt erholen zu können.

Der Streß hatte aber nichts damit zu tun, daß da zu viel zu lernen gewesen wäre - nein, an neuen Informationen konnte ich mich nicht sattlesen, die waren so verlockend, daß ich ständig mehr Bücher mit nach Hause genommen habe, als man in derselben Zeit durchlesen kann.

Der Streß hatte mit Räumen zu tun, in denen viel zu viele Menschen waren. Er hatte damit zu tun, daß ich Schwierigkeiten habe, unwesentliche Geräusche auszusortieren - und da ich unter anderem alle in der Uni verfügbare Literatur über ADHS und diverses über Autismus durchlas, wurde mir auch klar, woran das lag: Menschen mit ADHS oder Autismus (was dieselbe Veranlagung aber eine unterschiedliche Bewältigungsstrategie ist) können Störreize nicht so gut aussortieren, so lange sie nicht voll konzentriert sind. Deshalb sind sie, wenn sie in lauter Umgebung sind, immer entweder voll bei der Sache oder so abgelenkt, daß bei der Arbeit nichts vernünftiges herauskommt. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es nichts.

 
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3.3 Hyperfocussieren

Dieses voll konzentriert sein, bei dem der ADHS-ler ein vielfaches von dem schaffen kann, was der normale Mensch schafft, nennt man hyperfocussieren.

Wenn mir von außen niemand einen Artbeitsrythmus vorgibt, der über "komm morgens um acht und geh um 16 Uhr" hinausgeht, organisiere ich mir die Arbeit so, daß ich meine gesamte Konzentration brauche und deshalb voll konzentriert sein und vernünftige Ergebnisse liefern kann. Die dadurch frei gewordene Zeit verwende ich darauf, die Arbeiten, in denen ich nicht so gut bin, auf Flüchtigkeitsfehler zu kontrollieren und leistete dann bei meiner Arbeit als Bauzeichnerin trotzdem mehr als die meisten Menschen. So lange ich darauf achte, daß die Wochenenden frei bleiben, schadet mir dieses sogenannte hyperfokussieren nicht.

Daß ich mir meine Pausen fest einplanen und sie streng einhalten muß, um mir nicht selbst durch meinen Arbeitseifer zu schaden, hatte ich bei meinen Heilpraktikerfernstudium gelernt.
VA265.3 Kersti: Hyperfocussieren: Mein Heilpraktikerschein

Auch wenn man ein Buch liest, kann man das so schnell tun, daß man hyperfocussieren muß.
VA265.1.4 Kersti: Wenn ich lese: "Erde an Kersti ..."
Ich kann ungefähr drei mal so schnell Lesen - ich meine Wort für Wort lesen, nicht etwa nur überfliegen - wie ich sprechen kann und lese in Bussen und Straßenbahnen, um mich durch das hyperfocussieren besser vor dem dortigen Lärm schützen zu können. Nur ist es dazu dringend erforderlich, daß das Buch genug Inhalt pro Text enthält, daß ich geistig voll beschäftigt bin. Daher waren die Bücher aus der Universität dermaßen attraktiv.
VA152.2.2 Kersti: Alternative Standpunkte, die Unibibliothek und Wikipedia: Wissenschaft ist ganz anders!

Universitätsvorlesungen haben den Nachteil, daß sie das Tempo der normalen Sprache haben - man kann also nicht hyperfocussieren. Dadurch brauche ich dann eine geeignete Nebenbeschäftigung, damit meine Gedanken nicht sonstwohin abdriften. Und ich kehrte wieder zu meiner ständigen schulischen Nebenbeschäftigung zurück: Nebenher malen.
VA265.1.3 Kersti: Malen um die Aufmerksamkeit im Klassenzimmer zu halten

Für mich persönlich ist eine Vorlesung Zeitverschwendung - ein Lehrbuch zu lesen verbraucht ein Drittel der Zeit und in den Pausen kann man Hausarbeit machen, während man das gelesene durchdenkt. Wenn von allen deutschen Universitäten gemeinsam ein Fernkurs für die theoretischen Teile erstellt würde (für den der Professor vielleicht angibt, welche Teile in seiner Vorlesung drankommen) dann hätte man einerseits nicht das Problem, daß man ein ganzes Jahr (da die Vorlesungen nur jedes zweite Semester stattfinden) statt nur einem Semester verliert, wenn man die Prüfung verhaut und zweitens könnte man theoretische Kurse machen, die auf der eigenen Uni nicht angeboten werden.

Generell finde ich, daß immer auch die Allgemeinbildung zum unterrichteten Fach mit abgeprüft werden sollte: Schließlich soll eine Prüfung nicht prüfen ob der Student Vorlesung XY bei Professor YZ verstanden hat, sondern ob er insgesamt genug verstanden hat, um die folgenden Teile des Studiums zu meistern. Wenn er im unterrichteten Teil des Faches (wie z.B. Pflanzenphysiologie) vieleicht ein viertel weniger verstanden hat, dafür aber alles mögliche andere gelesen und verstanden hat, was zum Fach (z.B. Lehrbücher zu Pflanzenphysiologie) in der Bibliothek steht, sollte es für diese fleißigen und durchaus ausreichend ausgebildeten Schüler ein Drittel mehr Fragen geben, die Dinge behandeln, die in der Vorlesung nicht behandelt wurden, aber nur mit Bedauern herausgestrichen wurden, weil man dort nicht alles hineinpacken kann. Leute die viel lesen, aber es nicht so gründlich auswendig lernen, sollten für ihre Leistung ebenso belohnt werden, wie Leute, die wenig lesen und es oft wiederholen, um es intus zu haben.

 
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3.4 Über die Gesundheitsschädlichkeit des Studiums bei ADHS

Vorlesungen sind für mich gesundheitsschädlich: da ich nicht auf den Unterricht hyperfocussieren kann, kann ich die alltäglichen Störgeräusche, die zwangsläufig in so einem vollen Vorlesungssaal entstehen, nicht ausreichend gut ausfiltern.

Dies wiederum führt zu einer Überforderung des Nervensystems. Wenn ich nicht hyperfocussiere, nimmt das Nervenssystem zu viele Außenreize auf und macht die Art von Fehlern, die man auch von Computern kennt, auf denen man zu viele Programme gleichzeitig arbeiten läßt.
VA267. Kersti: Beispielgeschichte, Kersti: Vollkommene Erschöpfung durch Nichtstun
VA274. Kersti: 3.1 ADHSler sind Multitaskingfähig
Das heißt, ich werde vergeßlich, mir fallen öfter Dinge aus der Hand, weil sich die Hand selbsttätig öffnet, wenn ich sie auf den Körper zubewege (Was ein Reflexausfall ist, den man aber nicht mit einem Reflexhammer nachweisen könnte, weil dieser einen so starken Reiz liefert, daß der Körper darauf auch in diesem Zustand reagieren würde), ich greife daneben oder erkenne Dinge nicht, die ich suche, weil ich mit den Gedanken abschweife, wenn ich sie gerade halb erkannt habe.
O7.E3.2.3.1 Kersti: Wenn das Erkennen einfach nicht einrasten will
Ich mache bei jeder Art von Arbeit plötzlich zu viele Flüchtigkeitsfehler.

Ich merkte, wie ich erheblich zunahm und ständig irgendwelche gesundheitlichen Probleme entwickelte, die ich vorher nicht hatte. Und - was ich schon aus meiner Schulzeit kannte: Ich fühlte mich ständig erschöpft.

Wie es auch in der Schule schon gewesen war, lag das Problem nicht in intellektueller Überforderung. Ich habe abgesehen von theoretischer Physik, zu der ich einige Grundlagen nachlernen mußte, weil ich im Gymnasium nicht aufgepaßt hatte, keinerlei Verständnisprobleme. Mein Wissenshunger war auch durch die Vorlesungen bei weitem noch nicht gestillt.

Aber drei Seiten Zahlen abschreiben wurde plötzlich zu einem Ding der Unmöglichkeit - zwischen Schule und Studium hätte ich das zwar doppelt so oft kontrollieren müssen wie andere, aber ich hätte es immerhin gekonnt.
VB88.2.1 Kersti: ADHS: Das einfache ist schwierig und das schwere ist einfach

Nein, es war einfach dieses ständig unter so vielen Leuten sein, das ich nicht vertrug. Allein das - ohne jegliche zusätzliche Arbeit - überforderte mein Nervensystem so gründlich, daß ich ständig erschöpft und überreizt war. Nach der Schule war ich jeden nachmittag so erschöpft gewesen, daß ich mich zu nichts mehr hatte aufraffen können - welch ein Glück, daß für mich die meisten Hausaufgaben schlicht unnötig gewesen waren und daß ich trotzdem durch die Schule gekommen bin! Und es machte mich regelrecht krank. Und das war letztlich der Grund, warum ich das Studium abgebrochen habe: Meine Gesundheit ruiniere ich nicht dauerhaft für ein Studium.

Ich stellte fest, daß ich es doch übertrieben hatte: Ich war nach dem Studium nicht mehr so belastbar wie vorher und brauchte Jahre, um wieder so ausdauernd und belastbar zu werden wie früher. Ständig bekam ich Kopfschmerzen, wenn etwas mal ein klein wenig lauter war oder ich auf einem Familienfest war und auch da dauerte es Jahre, bis das wieder so weit abnahm, daß ich nicht mehr regelmäßig Kopfschmerzen hatte. Offensichtlich war das ein Burn-Out-Syndrom gewesen, das nichts mit den inhaltlichen Anforderungen des Studiums zu tun hatte - denn Dinge lesen und verstehen und die Erkenntnisse schriftlich ausarbeiten, ist etwas, das mache ich zur Erholung, ziemlich egal wie es mir geht! Bei mir ist die Fähigkeit Hausarbeit und andere körperliche Arbeiten zu machen das erste was ausfällt, wenn ich unter Streß gerate. Es fällt mir dann so viel aus den Händen, daß nur das absolut Notwendige tun, die beste Lösung ist.

Nachdem mir das klar wurde, kann ich nur sagen: Es ist ein Verbrechen, Leute mit der ADHS-Veranlagung, wie ich sie habe, 13 Jahre von Montag bis Samstag sechs Stunden in die Schule zu schicken, damit sie dort Dinge lernen, die man auch zu Hause lernen kann! Und sie dann auch noch danach zu beurteilen, wie schlecht sie mit dieser für sie unpassenden Situation zurechtkommen! Mein Haß auf die Schule war keine Folge des Mobbings sondern ein Zeichen von ständiger Überforderung durch den Lärm dort gewesen, und spätestens nach Ende der zweiten Klasse hätte ich dasselbe auch aus Büchern lernen können und einmal die Woche in der Schule vorbeischauen, um die Arbeitsergebnisse abzugeben und vielleicht etwas praktisches zu machen, hätte echt gereicht und wäre keine solche Folter gewesen.

 
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Quelle

Ich schildere, wann immer möglich, selbst erlebte Beispiele. Das tue ich nicht, weil es keine anderen gäbe, mit denen man dasselbe belegen kann, sondern weil ich die Literatur mit neuen, zusätzlichen Beispielen bereichern will.
VA272. Kersti: Wenn meine Beispiele alle von mir handeln - heißt das etwa, daß ich selbstbezogen bin?
Selbst erlebte Beispiele sind - da sie aus erster Hand sind - genauer beschrieben als Beispiele aus meiner Praxis, wo ich die Erklärungen meiner Patienten mißverstanden haben könnte und sie deshalb möglicherweise falsch wiedergeben könnte.
V175. Kersti: Kriterien zum Bau eines realistischen Weltbildes: Realitätsnähe
Und diese sind genauer und richtiger als aus der Literatur übernommene Beispiele, da ich bei diesen die betroffene Person nicht einmal persönlich kenne und das Beispiel deshalb möglicherweise in einen falschen Kontext einordne.

Weitere Quellen waren:


Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, E-Mail an Kersti_@gmx.de