73Kersti:

Es gelingt dir tatsächlich, die Waffe an dich zu reißen. Im flackernden Licht der Öllampen siehst du schemenhaft die geschmeidigen Bewegungen deines Gegners, das Blitzen seiner langen, schlanken Klinge. Schnelle, harte Hiebe folgen dicht aufeinander, drängen dich trotz deiner verzweifelten Gegenwehr immer weiter zur rechten Wand der Höhle. Dein Gegner ist dir weit überlegen. Seine schnellen Bewegungen sind nicht leicht einzuschätzen, vorauszuahnen. Jede deiner Schwächen scheint er zu kennen, entdeckt jeden Fehler, nutzt jede deiner Blößen, um dich weiter zurückzudrängen. Mit voller Wucht, versuchst du, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, doch er tritt schnell einen Schritt zur Seite und dein Schlag geht ins Leere. Du stolperst, verlierst durch die Wucht deines eigenen Hiebes das Gleichgewicht, wehrst im letzten Augenblick einen auf deinen Hals gezielten Schlag ab. Mit derselben Bewegung zischt das gegnerische Schwert zurück, zerschlägt das Handgelenk deines noch zur Abwehr des vorherigen Angriffes erhobenen Armes. Wie in Zeitlupe siehst du dich nach dem blutigen Stumpf deines Armes greifen, das Gleichgewicht verlieren. Dann faßt Sturmwind dein Gegner dein Bein, hält dich fest, damit du nicht in den Abgrund stürzt. Als du dich mühsam wieder aufrichtest, sagt er leise:
"Ich habe dich gewarnt."
Du bist viel zu benommen, um zu verstehen, geschweige denn zu antworten.

Die Silberschlangenreiter haben merkwürdige Gesetze: Für fast alle Verbrechen, wie schlimm sie auch sein mögen, besteht die Strafe darin, daß man mehr oder weniger lange für den Geschädigten arbeitet. Wie lange hängt vor allem davon ab, wie gut man seine Arbeit tut. Es ist verboten, Gefangene zu mißhandeln oder zu töten. Nur wer vor seiner Strafe davonrennen will, wird mit Folter und Tod bestraft.

Die Todesstrafen werden in einer riesigen Höhle mit einer kreisrunden Manege in der Mitte vollstreckt, die von riesigen abgetreppten Zuschauerrängen umgeben ist, wie in einem großen Zirkuszelt. Als Sturmwind dich mit seiner Silberschlange hinunter in die Manege bringt, sind schon alle Männer aus den umliegenden Höhlen versammelt. Auch ihre Gefangenen, die bei ihnen eine Strafe abarbeiten müssen, haben sie mitgebracht. Sie dürfen weder Waffen noch Schmuck tragen. Viele von ihnen sind selber Silberschlangenreiter, selbstbewußte, stolze Männer, die zwischen den Bewaffneten kaum auffallen. Andere kommen aus den Orten am Fuße der großen Felswand. Sie haben dunklere Haut und Haare als die blassen weißblonden Silberschlangenreiter. In ihren Augen steht Haß.

Sturmwind führt dich in die Mitte der Manege, und kettet dich mit ausgebreiteten Armen und Beinen so am Boden fest, daß du dich nicht rühren kannst. Du findest keine Möglichkeit zu einem Fluchtversuch. Es lohnt nicht, die Foltern näher zu beschreiben, denn für solche Schmerzen, wie du sie erlebst, bevor du vor Schwäche ohnmächtig wirst, gibt es keine angemessenen Worte.

Als du wieder zu dir kommst, befindest du dich in dem kleinen Raum in dem du dich von deinem Schlangenbiß erholt hast. Die Frau, die dich dort gesundpflegte, ist auch bei dir und sagt:
"Ich habe Anspruch auf dich erhoben, wie es mein Recht als Prinzessin der Silberschlangenreiter ist. Es gibt so wenige interessante Fremde. Also schlaf erst einmal, werd gesund, damit ich etwas von dir habe. Ich werde dich gesundpflege, nur deine Hand kann ich nicht nachwachsen lassen. Für ein Jahr kann ich dich schützen, dann mußt du selber gut genug kämpfen können, um dich gegen Sturmwind zu verteidigen, Prinz Einarm."

Die kleine, zierliche Frau, sieht dich nachdenklich und freundlich an. Du schläfst wieder ein, bevor du etwas erwidern kannst.

Weiter in Kersti / Buch 2, Nr. 12 : ("Das Volk der Silberschlangenreiter")


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