322Kersti:

Sofort springt Jora auf, kommt zu euch herüber, schaut von dir zu dem Fremden und zurück und sagt lachend:
"Ihr seht euch ja ähnlich wie Zwillige. Seid ihr verwand?"
"Nein", antwortet der Fremde sofort, "ich kannte euren Wächter bisher noch nicht einmal."

Der Leiter der Karawane, der inzwischen auch neben euch steht, läd den Fremden ans Feuer ein. Die anderen bekräftigen die Einladung. Sie freuen sich über die Abwechslung. Da sie gerade in den Schlafsack hatten kriechen wollen, wird eine neue Wache eingeteilt, so daß du mit am Feuer sitzen und auch mit dem Fremden reden kannst. Nachdem ihr euch noch lange angeregt unterhalten habt, geht ihr schließlich spät in der Nacht schlafen.

Am nächsten Morgen kommt der Fremde mit euch mit. Abwechselnd reitet er zusammen mit je einem von euch anderen auf jedem der Pferde der Karawane. Abends hilft er euch bei der Arbeit. Am Lagerfeuer drängen die anderen ihn, zu erzählen, wo er herkommt und was er so alleine in der Steppe macht.

Das Zauberschloß

Ich heiße Turin, und habe dieses Land durch ein großes, rotes Tor betreten, das in der Steppe steht. Der Torbogen aus rotem, verwitterten Naturstein ist nicht von Ruinen umgeben. Wenn man hindurchschaut sieht man auch dahinter nur die endlose, wellige Ebene der Steppe. Dennoch kommen manchmal Menschen heraus und erzählen von merkwürdigen Orten, an denen sie waren, bevor sie jenes Tor durchschritten. Auch ich lebte vermutlich in einer anderen Zeit, wahrscheinlich auf einer anderen Welt, vielleicht sogar in einer ganz anderen Wirklichkeit, als dieser.

Ich war eine Frau und lernte von einer alten, weisen Heilerin. Es war eine anstrengende, interessante und schwierige Zeit. Nach Jahren hartem Studiums war ich schließlich so weit, daß sie mich nicht wesentliches mehr lehren konnte. So schickte sie mich durch eine kleine, rote Tür, die an einem geheimen Ort mitten in den Berg zu führen schien. Dahinter fand ich Jumala, die Hexe, die das Zauberschloß zu dem Ort des Lernens gemacht hat, der es jetzt ist. Alle begegnen ihr, wenn sie das Zauberschloß das erste mal durch eine rote Tür betreten. Sie gab mir den Zaubermantel und die anderen Dinge, die alle ihre Gäste erhalten und schickte mich auf meine Reise durch das Zauberschloß. Seither habe ich viele Male meine Gestalt, das Geschlecht und meinen Namen gewechselt und mancherlei Abenteuer erlebt. Ich sah Orte, die meiner Heimat sehr ähnelten, aber auch fremdartige Gegenden, die meine Fantasie nicht hätte erfinden können. Ich habe gelernt und viel erlebt. Oft überlebte ich nur, weil die mächtige Zauberin Bardalon dafür sorgt, daß niemand im Zauberschloß umkommt.

Einst wird mich eine rote Tür des Schlosses wieder heimführen, so daß ich meinem Volk mit meinen Zauberkräften als Heilerin und weise Frau dienen kann. Ich weiß nicht, ob ich dann älter oder jünger sein werde als heute, ob ich früher oder später meine Heimat erreiche, als ich sie verlassen habe. Doch es heißt, wenn ein Mensch alles erlebt hat, was im Zauberschloß erfahrbar ist und jede Lehre erfaßt hat, die das Zauberschloß lehren kann, verläßt mensch es genau in dem Augenblick, in dem er oder sie es betreten hat, ist genauso alt, wie beim ersten Betreten und sieht auch fast genauso aus, nur das Haar ist schneeweiß durch die Weisheit, die auf der Reise erworben wurde.

Als er fertig ist, beginnen die anderen wie üblich jedes Wort der Geschichte mit ihrer Kritik zu zerpflücken, so lange, bis Turin schlißlich ganz verwirrt fragt, warum sie seine Geschichte eigentlich so schlecht machen würden. Da lacht Torajin der Sänger. Er erklärt:
"In Wahrheit ist deine Geschichte nicht unbedingt schlecht erzählt. Ganz egal, wie gut du sie erzählt hättest, es wäre immer möglich gewesen, sie noch besser zu erzählen. Wir kritisieren uns, wenn wir mit einer Karawane unterwegs sind, immer gegenseitig, weil wir fast alle gelegentlich durch Erzählen Geld verdienen und deshalb auf erzählerisches Können angewiesen sind."
Danach hört Turin der weiteren Kritik ernsthaft zu.

Am nächsten Abend erzählt Sorien, eine hochgewachsene, blonde Frau folgendes Märchen:

Der Göttliche Wunsch

Einmal vor langer Zeit, lebten alle Geschöpfe in Harmonie und die Welt war ein blühender Garten. Die Uralte Macht, die alles geschaffen hatte, freute sich an ihrer Schönheit. Heimlich wünschte sie, daß ihr Liebling, das Wesen, das Namen geben kann, es wählen würde, göttlich zu werden. Doch dies kann auch die Schöpfermacht nicht für ihre Geschöpfe entscheiden.

So lebte das Wesen, das Namen geben kann, im Garten. Wenn es nicht aß oder trank, gab es anderen Wesen schöne Namen. Es war glücklich, denn es lebte, wie es seine Art war und die Schlange Weisheit war sein Berater. Eines Tages fiel auf, daß es keinen Namen hatte. Da ging es zur Uralten Macht und sagte:
"Ich wünsche mir einen Namen."
"Gut. Ich nenne dich "Mensch"." antwortete die Uralte Macht.

Lange lebte der Mensch, glücklich im Garten, bis ihm auffiel, daß alle Tiere einen Gefährten hatten, der zu ihnen paßte. Also sagte er zur Uralten Macht:
"Ich wünsche mir einen Gefährten, der zu mir paßt."
Also versetzte die Uralte Macht den Menschen in einen Schlaf, teilte ihn in der Mitte und nannte einen Teil "Mann", den anderen "Frau".

Lange lebten Mann und Frau glücklich, verwandelten sich für ihre Spiele in jede Gestalt, die ihnen gefiel. Nur wie die Uralte Macht konnten sie nicht sein, denn ihr Schöpfer war ihnen unbegreiflich. Also gingen die Menschen zur ihr und sagten:
"Wir wünscht uns, zu werden wie du."
Da freute sich die uralte Macht und antwortete:
"Diesen Wunsch, kann ich nicht erfüllen, denn Göttlichkeit muß sich jeder selber erarbeiten, indem er Himmel und Hölle ganz durchquert und alles Leid der Welt kennenlernt. Wollt ihr trotzdem werden wie ich?"
"Ja" antworteten die Menschen.
"Gut." antwortete die Macht und erklärte der Schlange Weisheit den Weg zur Göttlichkeit.

Nachdenklich blickte die Schlange zu den Früchten am Baum der Erkenntnis auf.
"Wenn die Früchte der Erkenntnis zu essen, wirklich den Weg zur Göttlichkeit weist, warum warnte die Uralte Macht: "Ihr werdet des Todes sterben, wenn ihr sie eßt!"? Was ist "Erkenntnis"? Was "gut", "böse" oder "Tod"? Wenn die Uralte Macht es sagt, dann wird das richtig sein." sagte sich die Schlange Weisheit und riet den Menschen, von der Erkenntnis zu essen. Sie hörten darauf, wie sie bisher jedem Rat der Schlange Weisheit gefolgt waren.

So lernten sie ein wenig über die Bedeutung der Worte "gut" und "böse". Da kamen sich die Menschen so klug vor, daß sie meinten, sie bräuchten keine Weisheit mehr. Die Schlange Weisheit verlor die Fähigkeit zu gehen, denn kein Mensch schenkt ihr mehr Beachtung und gibt ihr Gelegenheit, sich aufzurichten. Seither treffen Menschen oft Entscheidungen, mit denen sie einander sinnloses Leid antun, und der Garten der Uralten Macht kommt ihnen nicht mehr schön vor.

Doch es heißt, wenn die Menschen in ferner Zukunft alle Früchte der Erkenntnis gegessen haben, wird die Weisheit Flügel bekommen und uns lehren, wie ein Gott zur rechten Zeit neue Welten zu erschaffen.

Bald darauf schlaft ihr ein. Am frühen Nachmittag des nächsten Tages erreicht die kleine Karawane schließlich eine Handelsstadt. Ein letztes mal ladet ihr die Traglasten ab und erkundet dann mit eurem Lohn in der Hand den Marktplatz.

Die Fortsetzung dieser Geschichte findet ihr in Buch 6 Nr.91


Zauberschloß
Kersti: Hauptseite vom Zauberschloß
Kersti: Hinweise für Autoren im Zauberschloß und solche, die es werden wollen
Sonstiges
Kersti: Hauptseite von Kersti
Kersti: Suche und Links
Kersti: Über Inhalt, Philosophie und Autorin dieser Seite

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von Lesern immer bekomme.
Werbung ist nicht erwünscht und ich bin nicht damit einverstanden, daß diese Adresse für Werbezwecke gespeichert wird.