erste Version: 4/2018
letzte Bearbeitung: 4/2018

Spirituelle Texte von Jasmin Marchler

D2.

Meine innere Schatzkammer

Ich stehe in einem wundervollen smaragdgrünen Laubwald. Über mir ragt eine gewaltige knorrige Esche empor. Yggdrasil der Weltenbaum. Seine roten Beeren, Früchte der Erkenntnis, schimmern lieblich im Lichte der ewigen Sonne. Eine Brise umweht mich sanft. Mein Gewand ist dieses Mal weiß-silbern mit goldenen Armkrempen. Meine bodenlangen dunklen Haare sind in einer silbernen Spange mit dem Antlitz einer Schlange zu einem Zopf zusammengefasst. Ein lederner Gürtel mit einer goldenen Schnalle umschmiegt meine Hüften. Ich habe mich schick gemacht. Vor mir, genau unter der gewaltigen Krone Yggdrasils, befindet sich ein uralter steinerner Brunnen. Wurzelwerk bildet eine Leiter in seine Tiefen. Ich lächle. Das ist also mein Zugang zu meiner ureigenen Schatzkammer. Grinsend begebe ich mich an den Rand des Brunnens und schaue in seine Tiefen. Tief unten ist noch Wasser. Das sehe ich als ein gutes Zeichen. Meine Träume sind also noch nicht versiegt. Ich betrachte eingehend die Wurzeln. Einige stellen sich als grüne Lianen heraus. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich nur die Lianen für den Abstieg nutzen sollte. Das Wurzelwerk ist zu knorrig um zum Teil abgestorben. Ich folge ihrem Ratschlag und schwinge mich über den Rand des Brunnens. Gekonnt umwickle ich meine beiden Handgelenke mit einer grünen Liane. Zu meinem Erstaunen setzt sie sich in Richtung Grund in Bewegung, als wäre sie mehr ein Tier als eine Pflanze. Nach einer kurzen Weile des Herabgleitens stehe ich auf dem Grund des Brunnens. Das Wasser reicht mir bis zu Hüfte.

Jedoch finde ich das nicht unangenehm. Eher erfrischend. Direkt vor mir befindet sich ein kleines Holztor. Meine innere Stimme weist mich darauf hin, dass das Tor eine Falle ist und in die Irre führt. Mit hochgezogener Augenbraue blicke ich mich um. Wenn dieses Tor eine Falle ist, wo ist dann das echte. „Hinter dir. Dreh dich um.“ Schulterzuckend folge ich dem Rat. Für eine längere Zeit sehe ich an dieser Stelle nur die steinerne Wand des Brunnens. Dann beginnt die Wand bläulich zu flimmern und es tauchen vor meinen Augen die zarten Umrisse einer Tür auf. Sanft drücke ich gegen den Stein. Er fühlt sich kalt an. Wenige Augenblicke später gibt er unter meinen Fingern nach und einen dunklen Pfad preis, der tief in die Erde zu führen scheint. So geht das also. Ich richte meine Gestalt auf und trete durch den Eingang. Er schließt sich hinter mir. Doch wider Erwarten ist der Gang nicht finster. Links und rechts von mir leuchten kleine Steine in einem bläulichen Licht. Sie säumen den gesamten Pfad. Ich blicke an die Decke. Rote Kristalle schimmern dort und beleuchten den Gang mit ihrem innewohnenden Strahlen. Nach ein paar Augenblicken eingehender Betrachtung der Leuchtsteine und Kristalle, setze ich mich in Bewegung. Grauer Kies knirscht unter meinen Sohlen, während ich mich langsam durch das dämmrige Licht des Ganges taste. Tatsächlich senkt er sich etwas hinab. Jedoch nicht so viel, wie ich anfangs geglaubt habe. Schließlich erreiche ich eine schwere Holztür, die durch dicke Eisenstreben zusammengehalten wird. Ein Knauf fehlt dieser Tür vollständig. Jedoch besitzt sie ein Schlüsselloch. Ich rufe den passenden Schlüssel herbei und er manifestiert sich in meinen Händen. Sein kunstvoll geschwungener Metallkörper passt sich perfekt an das Schloss an. Obgleich er zunächst golden schimmerte, nimmt er nun die Farbe des Eisens in der Tür an. Ich drehe den Schlüssel im Schloss. Ein leises Klicken ist zu hören. Die schwere Tür lässt sich öffnen, wenn auch mühsam. Ich stehe nun in einer staubigen Bibliothek mit unzähligen Büchern, Folianten, Tablets und Gedankenkristallen. Mir scheint es, als wäre hier jedes Mittel zur Aufbewahrung von Wissen vertreten. In der Mitte steht ein verstaubtes Pult. Hier hat schon lange niemand mehr geschrieben. Schade... Auf dem Pult liegt ein gelber Zettel. Auf ihn steht mit schwarzer Tinte geschrieben; „Da bist du endlich.“ Dann verschwindet die Schrift und es erscheint eine neue. „Endlich. Ich dachte schon, ich müsste hier ewig warten.“ Ich schlucke. Der Zettel ist ein magisches Artefakt. Als ich ihn greifen will, um ihn an mein Gewand zu befestigen, gibt er zu verstehen, dass er dies nicht möchte, weil ich dafür noch nicht bereit bin. Stattdessen fängt er an zu schweben und unmittelbar neben mir auf und ab zu gleiten. Ich schaue mich weiter um. Ganz in meiner Nähe entdecke ich links von mir eine schneeweiße Schwanenfeder. Ich hebe sie auf. Auch sie lässt sich nicht an meinem Gewand befestigen. Das Papier erklärt mir, dass die beiden ein Zweiteiler sind. Ich lasse die Feder los und sie befestigt sich von selbst in meinem Haar. Jetzt sehe ich ein bisschen aus wie Hermes der Götterbote. In der hinteren Ecke der Bibliothek glitzert es. Ein silberner Handspiegel erregt meine Aufmerksamkeit. Irgendwie hilft er, in die Tiefen der Seele zu blicken. Ohne weiteres lässt er sich an meinem Gewand befestigen. Dabei verwandelt er sich in eine silberne Schlange, die sich mehrfach sanft um meinen rechten Arm schmiegt. Ihr Maul endet in meiner Handfläche und hält ein kleines silbernes Spiegelplätchen mit den Zähnen fest. Ich grinse. Cool. Nun rollt sich auch das Papier zusammen und befestigt sich wie ein Kopfschmuck an meinem Zopf. Zusammen mit der Feder erschafft es einen Pergament-Mantel, der sich rasch mit Sätzen aus schwarzer Tinte füllt. Ein großes Gemälde erregt meine Aufmerksamkeit. Die Person auf dem Bild winkt mich lächelnd heran und bittet mich, das Gemälde abzunehmen und es an seinen ureigenen Platz zu bringen. Ich frage es, wo das denn sei. „In deiner Tasche“. Ich nicke und lasse es los. Im nächsten Augenblick schrumpft es auf handliche Größe und verschwindet in der Tasche meines Gewandes. Dies färbt sich daraufhin kunterbunt. Unter dem Gemälde auf einem Stapel Zeichenbücher liegen eine Palette Farben und ein paar Pinsel. Ich greife nach der Palette und nach den Pinseln und bin erschrocken wie unerträglich schwer sie sind. Dennoch möchte ich sie mitnehmen. Ohne weiteres, sieht man einmal von ihrem Gewicht ab, lassen sie sich in die Taschen meines Gewandes verstauen, indem sie auf die passende Größe schrumpfen. „Nun werde ich Hilfe benötigen, um später eine sinnvolle Auswahl treffen zu können.“ Der leuchtende Umriss Gottes erscheint in meiner Bibliothek. „Danke für deine Hilfe“ lächle ich. „Keine Ursache. Ich muss doch meiner werten Gattin beistehen“. Gott grinst breit. Ich grinse zurück. Das ist ein Insider zwischen uns. Ich drücke ihn einen Kuss auf die leuchtende Wange. Dann räuspere ich mich. „Also, wo sollen wir weitermachen?“ „Drehe dich mal um“. Ich folge der Anweisung und blicke auf eine weiße Rüstung, eine Statue. „Links neben der Statue...“. Ja, da liegt etwas. Aber ich kann nicht deuten, was das sein soll. Es sieht etwas aus, als hätte man ein Legoset vom Todesstern bei zwei Dritteln beendet. An seinen Seiten schimmern leuchtend blaue Schriftzeichen. Es wirkt irgendwie futuristisch und archaisch zugleich. „Was ist das?“ „Das ist dein Rechentalent.“ „Echt jetzt?“ Ok, das erklärt, warum es irgendwie kaputt und unvollständig wirkt. „Kannst du das reparieren?“ „Später vielleicht. Möchtest du es nicht mitnehmen?“ „Doch...“ Ich greife nach der Kugel und stecke sie in die Taschen meines Gewandes. Wider Erwarten ist sie federleicht. Ich blicke erstaunt auf. Gott scheint stolz auf mich zu sein. Er nickt zufrieden und zeigt dann mit seinem linken Arm links neben sich auf eine Tür. Die ist mir gar nicht aufgefallen. „Dann sind wir hier fertig?“ Gott nickt. Ich gehe voran. Im Vergleich zu der ersten Tür lässt sich diese ganz leicht öffnen. Auf der anderen Seite befindet sich ein Garten mit einem großen rechteckigen Becken, in dessen Wasser Lotusse in den unterschiedlichsten Farben blühen. „Möchtest du nicht ein Bad nehmen?“ Gott lächelt vielsagend und deutet mit einer Hand lässig auf das Wasserbecken. Ich grinse breit und nicke. „Spanner“ Doch Gott lässt das nicht auf sich sitzen und hält sich höflich eine Hand vor die Augen. Dennoch sehe ich das er schummelt. Lächelnd streiche ich meine Kleider ab und gleite in das Wasser. Ich schwimme ein paar Züge, dann wirft Gott mein Gewand mitsamt Inhalt in das Wasser. „Schwimm doch bitte in die Mitte des Beckens. Tu mir den Gefallen.“ Ich hebe eine Augenbraue. Ach ok....von mir aus. Ich schwimme bis in die Mitte des Beckens. „Kannst du gerade einen Tauchgang machen und mir etwas vom Grund des Beckens holen?“ Gott schaut mich bittend an. Ich nicke und tauche unter. Auf dem Grund sehe ich einen Ring golden schimmern, daneben liegen ein weißgoldener, ein kupferfarbener, ein platinfarbener und jede Menge edelsteinartige in den unterschiedlichsten Farben. Als ich mich ihnen nähere, erweisen sich die Ringe als Reifen. Ich hebe den goldenen Ring auf und streife ihn mir über den Arm. Dann hebe ich noch den Platinfarbenen, und den silbernen Ring auf. Ich schaffe es trotz des zusätzlichen Gewichtes nach oben zu tauchen. Wenn auch mit etwas Mühe. Ich gebe Gott den goldenen Ring und lege ihn auch die anderen beiden vor die Füße. Er lobt mich. „Gute Wahl.“ „Eigentlich hätte ich auch gern den weißgoldenen Reif geholt, aber das wäre dann zu schwer geworden.“ seufze ich. „Das ist nicht nötig. Das Becken ist dazu da eine Wahl zu treffen und du hast instinktiv die richtige Wahl für dich getroffen.“ „Kannst du mir sagen, warum ich so an dem silbernen gehangen habe? Ich hatte echt Widerwillen, ihn dir zu geben.“ Gott setzt ein strahlendes Lächeln auf. „Und doch hast du ihn mir gegeben. Danke für dein Vertrauen in mich!“ Ich lächle zurück. „Es wäre einfach nicht richtig so gewesen.“ „Da hast du Recht. Es wäre zumindest nicht zu deinem höchsten Wohle gewesen.“ „Soll ich noch einen Tauchgang machen?“ „Möchtest du denn?“ Ich hole tief Luft und gehe in mich. „Nein, eigentlich. Ich denke, du hast mit dem Festlegen schon recht. Mehr als drei wären nicht gut...“ Gott grinst bis über beide Ohren. „Da hat jemand gut zugehört.“ „Und was jetzt?“ Erwartungsvoll blicke ich seine lichtvolle Gestalt an. „Kannst du bitte nochmals in die Mitte des Beckens schwimmen? Dieses Mal möchte ich, dass du mir einen Lotus bringst.“ „Wären bei drei Ringen nicht auch drei Lotusse angebracht?“ „Du kannst auch drei oder vierzehn oder dreißig mitbringen. Mir geht es erst einmal um den weißen in der Mitte.“ Ich zucke mit den Schultern und wende mich hin zur Mitte des Beckens. Der weiße Lotus ist wunderschön. „Sag mal, sterben Lotusse nicht, wenn man sie von ihren Teich und somit Wurzelwerk trennt?“ rufe ich über die Schulter. „Keine Sorge. Ich werde gut auf sie aufpassen.“ Ein schwerer Seufzer dringt durch meine Kehle. Dann löse ich den Lotus sanft von seinem Platz und schwimme mit ihm an den Rand des Beckens, wo Gott auf mich wartet. Entgegen meinen Erwartungen leuchtet der Lotus nur noch strahlender. Liebevoll hebe ich die Pflanze aus dem Wasser und reiche sie Gott. Dieser bückt sich und nimmt den Lotus in beide Hände. Der Lotus scheint glücklich damit zu sein. Eine Träne der Erleichterung perlt über meine Wange. „Danke für dein Vertrauen in mich. Möchtest du noch einen holen?“ „Ehrlich gesagt bin ich hin und hergerissen. Wenn ich sehe, wie gut es diesem Lotus bei dir geht, möchte ich dir an liebsten alle schenken. Und dann denke ich, dass das aber für mich zu viel sein könnte.“ Gottes Augen weiten sich vor Erstaunen. „Du möchtest mir wirklich alle schenken?“ „Ja, eigentlich schon. Wenn das für mich keine Überforderung darstellt.“ Gott wischt eine Träne der Rührung aus seinem Gesicht. „Ist das dein Ernst?“ „Ja, das ist mein voller Ernst.“ „Dann werde ich dir bei der Ernte helfen.“ Mit diesen Worten verstaut er meinen Lotus sorgsam in seinen Gewändern und springt in voller Montur zu mir in das Wasser. Das Gefühl als er neben mir auftaucht, ist eigentümlich. Ich fühle mich voller Liebe und Glückseligkeit. Mit einem ziemlich dämlichen Grinsen im Gesicht, dass sich auch nicht so einfach entfernen lässt, frage ich, wie wir denn jetzt vorgehen? Gott schlägt Arbeitsteilung vor. Ich soll die eine Hälfte des Beckens ernten und er erntet die anderen Lotusse auf der gegenüberliegenden Seite. Dann sammeln wir alle in der Mitte und dann....geschieht wohl ein Wunder. Ich nicke ihm zu und beginne, liebevoll einen Lotus nach dem anderen aus seiner Halterung zu lösen und in die Mitte des Beckens zu schieben. Ich lasse keinen aus. Einige Zeit später haben wir alle Lotusse in der Mitte gesammelt. Gott legt die Hand an seine rechte Tasche, dort, wo er auch den weißen Lotus verstaut hat und blickt mich fragend an, so als würde er nochmals um Erlaubnis bitten. Ich hole tief Luft. Dann nicke ich entschlossen. Gott lächelt strahlend und öffnet seine Tasche. Der Strudel, der entsteht, treibt die Blüten in das Innere seines Gewandes. Ich weine. Alte Erinnerungen voller Verlust überschwemmen mich. Doch das ist ok. Ich weiß, das war die richtige Wahl. Gott trägt mich aus den Wasserbecken. Er erschafft eine steinerne Bank, wo er mich sanft ablegt. Sein Gesicht spiegelt reine Glückseligkeit wider. „So“ spricht er „dann wollen wir mal deine Ringe befreien.“ Mit diesen Worten krempelt er seine Ärmel hoch und erschafft einen Sog, der all die anderen Ringe an die Oberfläche des Wassers treibt. Mit einem Fingerschnippen schweben sie in der Luft, dann öffnet er seine linke Tasche und all die Ringe fliegen hinein. Schließlich hebt er die drei Ringe auf, die ich ihm zuerst gebracht hatte. „Bleibst du bei deiner Wahl?“ „Ich überlege, ob ich mich mehr festlegen möchte.“ Gott schaut mich erstaunt an. „Das wäre wunderbar! Zu welchem Ring fühlst du dich denn am meisten hingezogen?“ „Zu dem goldenen, den ich dir als erstes bringen sollte.“ Gottes Augen weiten sich. „Bist du dir da sicher? Du musst das nicht wollen, nur weil ich das für dich ausgesucht habe.“ Ich atme mehrmals tief ein und aus und gehe dann in mich. Dann nicke ich. „Ich habe ihn nicht gewählt, weil du ihn für mich gewählt hast. Jedenfalls nicht in diesem Sinne. Sondern weil er perfekt zum weißen Lotus passt. Und in den habe ich mich Hals über Kopf verliebt. Nicht dass die anderen Lotusse nicht auch großartige Aspekte meiner Selbst sind. Aber mein Herz sagt mir, dass es jetzt der weiße Lotus ist.“ Gott scheint gerade vor Freude gleichzeitig zu lachen und zu weinen. „Weißt du, was das heißt?“ „Nö, nicht wirklich umfassend. Ich weiß nur, dass es die richtige Wahl für mich ist.“ „Du hast eine großartige Wahl für dein Leben getroffen! Der weiße Lotus und der goldene Ring! Besser geht es nicht!“ Ich gucke Gott skeptisch an. „Na, wenn du das sagst...“ Das war wohl zu viel. Er bricht in schallendes Gelächter aus. Sein Lachen ist ansteckend und kurze Zeit später lachen wir beide. Mein Herz füllt sich mit Freude und Leichtigkeit. Gott lachen zu hören, ist ausgesprochen heilsam. „So, dann wollen wir mal weiter. Wir sind noch nicht fertig.“ Mit beschwingten Schritt eilt er zu meiner Steinbank und hebt mich hoch. Mir wird erst jetzt klar, dass ich immer noch nackt bin. Und ja, das hört sich doof an, aber es ist mir peinlich. Gott erschafft eine Decke, die mich einhüllt. Er meint jedoch, dass es nichts zu verstecken gibt. Ich hätte eine sehr schöne Seele. „Danke für das Kompliment.“ „Keine Ursache. Ist nur die Wahrheit.“ Mit diesen Worten schreitet er, mich in seinen Armen haltend, durch den Raum mit dem Wasserbecken, einen offenen Torbogen passierend, in den nächsten Raum. Dieser ist riesig und gleicht eher einer gigantischen Halle als einem einfachen Raum. Im hinteren Teil befinden sich eine schmale Treppe aus drei Steinstufen. Dort setzt Gott mich ab. Dann tritt er etwas hervor und stellt sich mittig vor die Steinstufen. Mit einem einfachen Handgriff öffnet er die rechte Tasche und all die gesammelten Lotusse fliegen heraus und verteilen sich schwebend im Raum. Mir steht vor Staunen der Mund offen. Ich ahne, worauf das hinaus läuft...Dann öffnet Gott seine linke Tasche. Die Ringe sind nun keine Ringe mehr sondern Kristalle. Jeder Kristall fliegt zu seinem Lotusgegenstück und setzt sich in sein Zentrum. Dann passiert das Wunder: Um die schwebenden Blüten bilden sich leuchtende menschenähnliche Silhouetten, die sich zu echten Menschen verdichten. Alles Versionen und Variationen von mir. Der Anblick ist kaum in Worte zu fassen. Es sind fast hundert Stück. Vor mir stehen nun Männer und Frauen in den unterschiedlichsten Altersgruppen. Junge Mädchen und alte Greisinnen. Junge Kerle und alte Männer. Auch ein paar Kinder sind dabei. Gott tritt beiseite. Er winkt mich zu sich. Ich rapple mich auf und trete schüchtern neben ihn.“Sag ihnen doch was...“ flüstert er mir zu. Ich schlucke. Dann nicke ich. „Danke, dass es euch gibt. Mein Herz ist erfüllt von Freude und endlosem Staunen, weil es weiß, dass es euch gibt. Ich habe euch lieb! Jeden einzelnen von euch. Leider habe ich nicht die Kapazität, um jeden von euch in diesem Menschenleben voll und ganz auszuleben und ich denke, dass würde eurer Schönheit nicht gerecht werden. Jeder einzelne von euch ist ein Geschenk für mich und jeder hat etwas einzigartiges zu geben. Dafür bin ich unendlich dankbar.“ Bei diesen Worten verbeuge ich mich höflich vor ihnen. „Ihr wartet auf meine Entscheidung, richtig?“ Die Menge nickt erwartungsvoll. „Ok. Ich habe mich für den weißen Lotus und den goldenen Kristall entschieden.“ Die Menge wirkt nicht einmal zerknirscht. Eher zufrieden mit meiner Wahl. Der Mensch, die Version von mir, die den weißen Lotus im Herzen trägt, tritt aus der Menge hervor und auf mich zu. Sie ist androgyn und trägt ein leuchtendes weiß. Ihr langes dunkles Haar wurde in mehreren goldenen Ringen zu einem Zopf zusammengefasst. Ihr Gesicht schimmert so strahlend, dass ich es nicht erkennen kann. Meine innere Stimme sagt mir, dass es meines ist. Ich umarme die Gestalt schüchtern und frage sie, ob sie mit der Wahl einverstanden ist. Sie nickt heftig. Dann verschmelzen wir zu einem Wesen. Freudig nicke ich Gott zu. Ich bin mit meiner Wahl sehr zufrieden. Die anderen verharren noch an ihren Positionen. Als würden sie noch auf etwas warten. „Sie haben Geschenke für dich.“ „Für mich?“ Ich kann mein Erstaunen kaum verhehlen. „Das ist aber lieb!“ „Aber das musst du aber nicht heute machen. Das reicht auch morgen noch.“ Ich lächle und verabschiede mich aus meiner Schatzkammer.


Ein Text von Jasmin Marchler, supermeep@freenet.de
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