Veröffentlicht in Zeitschrift: Idee und Bewegung: 2/96
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Merkwürdige Erfahrungen

E3.

Nur ein Lächeln

Es geschah auf einer Demonstration gegen Atomkraftwerke. Ich sah eine Frau zusammen mit ihrem Mann quer durch den Demonstrationszug stolpern und empört schimpfen: Das sei doch unmöglich, diese Demonstranten und überhaupt... Ich fand ihre Wut unangemessen. Indem ich mich kurz auf sie konzentrierte, erfuhr ich, woran es lag. Sie war erschöpft, vollkommen ausgelaugt, den Tränen nahe. Sie mußte wohl einen anstrengenden und enttäuschenden Tag hinter sich gehabt haben, schloß ich. Wäre sie noch ein Kind gewesen, hätte sie geweint und dadurch ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Stattdessen ärgerte sie sich über alles und jeden. Kopfschüttelnd fragte ich mich: "Habe ich es nötig, mich darüber aufzuregen? - Nein." war die Antwort. Ich wandte mich nach innen, konzentrierte mich auf die Herzgegend und fand dort ... Liebe. Ich drehte mich zu der schimpfenden Frau um und schenkte ihr ein aus tieftem Herzen kommendes, strahlendes Lächeln. Sie blieb direkt vor mir stehen und sah mich erstaunt an. Ihre Hände streichelten über meinen Rücken. War sie sich dessen überhaupt bewußt? Ihre schlechte Laune war wie weggeblasen. Daß ich zu den Demonstranten gehörte, konnte sie wegen des Plakates in meiner Hand wohl kaum übersehen haben. "Tut ein Lächeln wirklich so gut?" fragte ich mich verwundert.

Als die beiden weitergingen, sah ich ihnen lächelnd nach. Sie hatten ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Ich wußte, daß für diese beiden Menschen Demonstrationen von nun ab mit der Erinnerung an ein strahlendes Lächeln verbunden sein würden. Eine gute Erinnerung.

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