vor 26.2.01
Mit diesen Worten drehte ich mich um, sprang federnd auf die Drachenhand, die im gleichen Augenblick neben mir auftauchte und flog mit Idith davon, sobald ich mich fertig angeschnallt hatte.
Ich saß an meinem Computer und schrieb weiter an meier Lebensgeschichte. Idith lag auf dem breiten Felsvorsprung auf der gegenüberliegenden Seite des Vulkansees und sonnte sich ausgiebig.
Plötzlich stürmte unser Herr herein. Ich grüßte ihn
freundlich. Statt den Gruß zu erwidern brüllte er mich
an:
"Wo wart ihr gestern nacht?"
Aha. Der Zirkusdirektor hatte also gepetzt.
"Wir haben Idiths kleine Schwester besucht. Er hat
sie überhaupt nicht an die Sonne gelassen. Sie wäre
beinahe verhungert." antwortete ich, ohne eine
Gefühlsregung zu zeigen.
Er machte mich zur Sau, hielt mir einen halbstündigen
Vortrag darüber... Nein. Das ganze hatte ihn einfach
zutiefst erschreckt und er schimpfte sich seinen
Schreck darüber, daß ich so etwas getan hatte von der
Seele. Ich hörte still zu - aber ohne einen Millimeter
zurückzuweichen.
"Weißt du überhaupt in was für Schwierigkeiten du
mich damit bringst?" fragte er am Ende vorwurfsvoll.
"Ich denke schon. Aber ich konnte nicht einfach
zusehen, wie Idiths kleine Schwester verhungert."
antwortete ich.
Der Mann warf mir einen ungläubigen Blick zu.
Diese Unnachgiebigkeit hatte er von mir noch nicht
kennengelernt. Noch nie hatte ich zu ihm etwas gesagt,
was unfreundlich oder auch nur unhöflich war. Ich
hatte jede seiner Anweisungen bisher zuverlässig
ausgeführt. Vor allem, weil ich immer sehr zufrieden
mit ihm als Herrn gewesen war.
"Was hast du ihm gesagt?" fragte ich.
"Daß es vollkommen unmöglich sei, daß du an dem Tag an
der Stelle gewesen sein könntest. Du würdest
pausenlos überwacht."
Ich nickte. Und ich war sehr zufrieden damit. Damit
hatte er dem Zirkusdirektor gleichzeitig und ohne das
zu wollen mitgeteilt, daß er - ob mein Herr davon wußte
oder nicht - zumindest keinen wirksamen Schutz gegen
den Drachen zu erwarten hatte.
"Es tut mir leid, daß ich dir einen solchen Ärger
bereite. Aber ich gehe davon aus, daß sich die
gröbsten Wellen innerhalb der nächsten 14 Tage legen
werden. Im Endeffekt haben wir dem Mann nur gezeigt
wie er seine Probleme mit dem Drachen lösen kann. Und
zumindest bis jetzt hat es funktioniert. Erith sonnt
sich grade und wartet auf ihren Auftritt." erklärte
ich ihm. "Du hast doch Kinder. Hättest du tatenlos
zusehen können, wie eines von ihnen verhungert und zu
Tode gequält wird, ohne irgendetwas zu unternehmen,
und das bei einem Kind, das gerade in dem Alter ist,
wo es zu krabbeln beginnt?" fragte ich eindringlich.
Ich redete noch einige Stunden mit ihm, versuchte ihm
klar zu machen, wie verzweifelt ich gewesen war und
warum ich gar nicht anders hatte reagieren können. Und
am Ende schien er es sogar zu verstehen.
Zwei Wochen später stand ich wieder vor dem Wohnwagen.
Idith war diesmal zuhause geblieben, denn mein Herr hatte
es so befohlen. Ich klopfte an. Diesmal öffnete der
Direktor selbst und prallte bei meinem Anblick
entsetzt zurück, dann fing er sich wieder und fuhr
mich an, was ich eigentlich von ihm wollte.
"Mich entschuldigen." antwortete ich.
Er versuchte seine unendliche Erleichterung zu
verbergen. Hinter dieser Erleichterung steckte aber
flammender Zorn.
"Ich kann nicht ehrlichen Herzens behaupten, daß ich
bedaure, getan zu haben, was ich getan habe. Der
kleine Drache wäre sonst verhungert. Aber es wäre mir
lieber gewesen, wenn ich ein weniger drastisches
Mittel zur Verfügung gehabt hätte, um sein Leben zu
retten. Und - ich bin zufrieden, wie sich die
Situation entwickelt. Ich werde euch nicht wieder
bedrohen." erklärte ich.
"Ich muß ehrlich zugeben, daß ich euch am liebsten
erwürgt hätte."
Ich lachte:
"Das kann ich mir vorstellen. Aber ich habe euch
vorher genug Briefe geschrieben und ihr habt nicht
auf meine Ratschläge gehört. Und Nema hat euch auch
mehrfach gesagt, wo die Probleme liegen und ihr habt
ihr nur das Wort verboten. Ich war einfach mit meinem
Latein am Ende. Ich bitte euch darum, meine Briefe
in Zukunft wenigstens zu lesen. Mein Drache steht
im ständigen telepathischen Kontakt mit eurem.
Es könnte wichtig sein."
"Das werde ich tun."
Dahinter steckte noch immer Groll. - Nein Haß. Ich
hatte mir einen Feind fürs Leben gemacht. Das wußte ich
jetzt. Er gehörte zu den Menschen, die es niemals
verzeihen können, wenn man sie erpreßt. Doch er würde
es nicht an dem jungen Drachen auslassen.
"Und dieser Mistkerl von deinem Herrn hat dich auch
noch gedeckt!" sagte er.
"Nein. Ich bin überzeugt, er hat im ersten Moment
wirklich nicht geglaubt, daß ich das getan haben
könnte. Ich war ihm bis zu dem Tag noch nicht einmal
in Kleinigkeiten ungehorsam. Ich habe ihn noch nie so
wütend erlebt, wie nach dem Augenblick, als ich ihm
gesagt habe, daß ich tatsächlich hier war. Und ich
glaube, er wird mich nie wieder alleine fliegen
lassen." erklärte ich.
"Wenn er dir eine Lüge geglaubt hätte, warum hast du
ihm dann die Wahrheit gesagt?"
"Weil ich nie lüge."
Zum Abschluß übergab ich ihm noch das Schreiben meines
Herrn. Ich beobachtete ihm beim lesen. Er wirkte besänftigt, als er
fertig war. Als Entschuldigung dafür, daß er nicht auf mich
aufgepaßt hatte, bot mein Herr ihm an, sämtliche Schulden zu
übernehmen, die der Zirkus im Augenblick hatte. Der zweite Teil war
eher eine Entschuldigung an mich. Er meldete sein Interesse an, Nema und
ihren jungen Drachen zu kaufen, sobald sie zu groß für den
Zirkus seien. Mein Herr machte sich Vorwürfe, daß er sich
nicht rechtzeitig um die Probleme des Drachen gekümmert hatte. Er
hätte ihn einfach kaufen können, bevor ich dorthingegangen war,
weil ein Drache, der offensichtlich am verhungern war und sich weigerte,
etwas zu tun, für einen Zirkus nicht von Wert wäre. Jetzt, wo
ich die Probleme auf meine Art gelöst hatte, war es anders. Das
Angebot würde sicherstellen, daß der junge Drache nie wieder
in eine so schlimme Situation kam. Ein Drache war teuer - ebenso wie das
Schulden begleichen. Aber es viel in den Rahmen, den mein reicher Herr
aus der Portokasse begleichen konnte.
"Du kannst deinem Herrn bestellen, daß ich seine Entschuldigung
annehme." sagte der Zirkusdirektor schroff zu mir.
"Und meine?" fragte ich.
"Nicht." antwortete er.
Ich nickte. Es war in Ordnung so. Wenn er eine Möglichkeit finden
sollte, seinen Ärger an mir persönlich auszulassen, so
würde ich damit fertigwerden. Aber es sollte niemand anders darunter
leiden müssen.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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