10/06
Ich setzte mich - wie der Herr mir gesagt hatte - in die hinterste Reihe und betrachtete
nachdenklich den geschlossenen Vorhang.
"Na Kleiner, was machst du denn hier?"
Überrascht sah ich den Mann an, der mich angesprochen hatte. Eigentlich war es doch ganz offensichtlich.
"Ich sehe mir gleich die Abendvorstellung von der Fee Idira an. Das sieht man doch." antwortete ich.
Der Mann lachte, als hätte ich etwas wirklich lustiges gesagt.
"Weißt du denn überhaupt, wovon das Stück handelt?" fragte er mich.
"Ja natürlich. Das ist doch Kinderkram." antwortete ich.
Jetzt lachten rätselhafterweise noch mehr von den Menschen.
"Dann erzähl mal."
Ich gab den im Buch geforderten Bühnenaufbau wieder und begann dann mit der ersten Zeile des Stückes, die eigentlich eine der verrücktesten Stellen des Buches war. Das sagte ich auch und erntete damit wieder einen Lacher. Als sie das Lachen hörten, kamen nun auch die Leute aus der ersten Reihe nach hinten um zu sehen, was hier los war.
"Ja findet ihr das denn nicht verrückt, daß er das da sagt?" fragte ich.
Komischerweise fingen sie dann erst richtig an zu lachen. Jetzt war meine Neugier geweckt und ich fragte sie, was er sich denn ihrer Ansicht nach bei diesem verrückten Satz gedacht hatte.
"Das verstehst Du noch nicht, Kleiner."
Jetzt war ich verärgert - weniger weil sie mich
"Kleiner" nannten und mehr weil ich mich als
Kind ausgeben sollte und deshalb nicht sagen
durfte, daß ich schon zwanzig bin. Dann kam
mir ein Gedanke, wie ich ihn vielleicht dazu
bringen konnte, daß er es mir doch noch sagt.
"Doch das verstehe ich. Deshalb ist es ja so
verrückt. Aber du sagst das nur, weil du es
selbst nicht verstehst." behauptete ich.
Mit dem Erfolg, daß der ganze Saal lachte.
"Nein Kleiner, für SO etwas bist du wirklich noch zu jung."
"Gar nicht wahr - in Wirklichkeit bin ich nämlich schon sechs!" gab ich zurück.
In dem Wissen daß sie mich wegen meiner geringen Größe auf höchstens drei schätzen würden. Das Gelächter steigerte sich erheblich. Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf und sagte ihnen, daß sie doch alle blöd seien, sonst wüßten sie schließlich, daß ich recht hätte.
"Ach so - und was genau bedeutet dieser Satz?"
Ich gab eine unserer besonders verrückten und
deshalb mit absoluter Sicherheit falschen
Theorien über die Bedeutung dieses Satzes
wieder und erntete weitere Lachsalven.
Mein ärgerliches Gesicht war nur halb gespielt, denn diese Scene bestätigte einen Verdacht, den ich schon immer gehabt hatte: In der Firma Festrana, die uns züchtete, enthielten sie uns bei der Ausbildung wesentliche Informationen über die Wirklichkeit vor, damit wir möglichst unselbstständig blieben und nicht erfolgreich weglaufen konnten. Aber denen würde ich es zeigen!
Der Herr beendete diese kleine Scene indem er kam und mich fragte, ob ich auch still zuhören könne, oder ob er mich auf die Straße setzen müsse. Ich versprach jetzt, ganz brav stillzusitzen. Als ich noch mal zu ihm rüberschaute, blinzelte er mir zu. Also war alles in Ordnung.
Nach der Vorstellung fragte der Herr mich, was ich den Leuten denn erzählt hatte und er bestätigte meinen Verdacht, daß die Firma mir viel Wissen vorenthalten hätte.
"Allerdings haben die Leute recht. Du bist wirklich zu jung, um dich mit solchen Themen abzugeben. Aus deinen Unterlagen, entnehme ich, daß Du erst mit 40 Jahren ausgewachsen bist - also entspricht dein jetziger
Entwicklungsstand etwa einem zehnjährigen Kind."
"Ich will es aber wissen!" protestierte ich zornig.
Leider gelang es mir nicht, ihn umzustimmen.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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