10/06
Eines Tages, etwa fünfzehn Jahre nachdem ich zur Truppe gestoßen war, vereinbarten wir mit dem Besitzer einer großen Zeitung, daß wir eine Sondervorstellung für dessen Personal geben würden. Ich wurde schon bei dem Vorgespräch hinzugerufen weil dieser Mann sich für mich interessierte und er fragte mich ziemlich über mein persönliches Leben aus. Er hieß übrigends Ered.
Nach der Vorstellung drei Tage später, die wie meist ein großer Erfolg war, bat er mich um ein Interview. Ich war einverstanden, auch weil der Herr gemeint hatte daß ich Interviews normalerweise zustimmen sollte, weil sie gut fürs Geld sind.
Nach einigen weiteren persönlichen Fragen fragte Ered mich:
"Wie ist es eigentlich, wenn man in einer Zuchtanstalt als Ergebnis genetischer Experimente heranwächst."
Ich stockte, dann fragte ich:
"Willst du das wirklich wissen?"
"Ja. Ich stelle mir das ziemlich entwürdigend vor."
Darauf sagte ich erst mal gar nichts, denn ich war auf die Frage nicht gefaßt gewesen. Eigentlich wollte ich erzählen, wie es wirklich war, die ganzen Foltern und Grausamkeiten und daß es außer Joair niemanden von den Ausbildern interessiert hatte, ob wir glücklich waren.
Andererseits gab es die Mörder. Die Firma Festrana züchtete nämlich nicht nur Diener und Akrobaten und Arbeiter für körperliche Schwerstarbeit. Sie züchteten auch Mörder. Natürlich taten sie offiziell so etwas nicht - aber inoffiziell war bekannt, daß man dort über Umwege Selbstmordattentäter und ähnliche Personen kaufen konnte. Über die Methoden, mit denen die Mörder ausgebildet wurden, weiß ich nicht allzuviel - sie sollen nur sehr grausam sein. Jedenfalls wurde uns in der Ausbildung gesagt, daß die Firma uns einen Mörder schicken würde, wenn wir es wagten, zu erzählen, was sie dort alles mit uns gemacht hatten - das wäre Firmengeheimnis.
Aus den vielen Diskussionen unserer Schauspieltruppe, wie man bessere Öffentlichkeitsarbeit machen könnte, wußte ich, daß ich der Firma Festrana sehr schaden konnte, wenn ich erzählte, was sie alles mit uns gemacht hatten - und das war mir das Risiko wert, weil sie dann nicht mehr so viele von uns züchten und so behandeln würden.
"Das mit dem 'entwürdigend' ist nicht das Problem. Viel schlimmer ist, daß man keine richtigen Eltern hat, die einen unterstützen und helfen, wenn die Firma etwas schlimmes tut." erklärte ich.
"Aber es heißt doch, man hätte eine liebevolle Pflegemutter." antwortete er.
"Ja - liebevoll und dumm und ehe ich zehn war, mußte ich in die Gemeinschaftsräume umziehen und durfte sie nie wiedersehen."
"Aber daß sie dumm war, kannst du ihr doch nicht zu Vorwurf machen!"
"Ich mache es nicht meiner Pflegemutter zum Vorwurf - sondern der Firma. Sie hätten die Ammen nicht auf Dummheit züchten müssen, nur damit sie keinen Ärger machen, wenn ihre Kinder gefoltert werden." entgegnete ich.
"Aber haben sie euch denn wirklich gefoltert?"
Ich erzählte ihm, wie die üblichen Strafen aussahen.
"Aber du wirkst doch gar nicht eingeschüchtert."
"Wenn ich eingeschüchtert wäre, würde ich es nie wagen, das zu erzählen, weil ich viel zu viel Angst vor den Mördern hätte. Seit Joair zu fliehen versucht hat, glaube ich, daß es diese Mörder wirklich gibt. An jenem Morgen stand ich zusamen mit den anderen von uns auf und lief zum Frühstücksraum - doch als ich um die Ecke bog, hinter der der Speisesaal lag erstarrte ich. Dort lag jemand, der so zerfetzt und blutig aussah, daß ich zuerst dachte, er ist tot. Dann hörte ich ihn wimmern und wußte er lebt noch. Ich kniete neben ihm nieder und fragte was passiert ist. Joair öffente sein eines Auge - wo das andere gewesen war, war nur noch ein blutiges Loch - und sagte: "Ich habe versucht zu fliehen ... das fanden sie wohl nicht so gut." und versuchte zu Lächeln, was ihm aber nicht wirklich gelang. Er hatte zu große Schmerzen, denn sein rechter Arm und sein rechtes Bein fehlten ganz. Er setzte sich auf und als er sich dabei mit der anderen Hand aufstützte, merkte ich, daß die Finger aussahen, als hätte jemand mit dem Hammer daraufgeschlagen auch der zweite Fuß war abgehackt worden. Joair nahm sich zusammen und erzählte in allen Einzelheiten, wie sein Fluchtversuch abgelaufen war, welche Fallen er entdeckt und umgangen hatte und wie er dann in eine Tretmine am Rande des Firmengeländes getreten war. Das war wichtig, damit der nächste, der es versuchte, keinen Fehler machte, den er mit diesem Wissen hätte vermeiden können. Jaramis hat etwa einen Monat später einen Fluchtversuch gemacht, und da wir nichts mehr von ihm hörten, gehe ich davon aus, daß er Erfolg hatte. Ich hielt mich an Joairs Rat und wartete mit der Flucht, bis ich verkauft war ... und danach sah ich keinen Grund mehr zu fliehen."
Danach stellte er keine weiteren Fragen mehr. Aber das Interview erschien in der großen Zeitung und es kamen einige Presseleute, die auch ein Interview haben wollten. So viele, daß es langsam in Arbeit ausartete. Ich freute mich, zu sehen, welche Empörung das in der Öffentlichkeit auslöste.
Natürlich mußte ich nebenbei noch alle unsere öffentlichen Vorstellungen mitmachen und es war deshalb eine ziemlich anstrengende Zeit, zumal die anderen darauf bestanden, daß ich weiterhin für einen guten Schulabschluß lernen sollte.
Eines Tages schloß ich wieder die übliche Abendvorstellung ab, indem ich quer über die Bühne eine Reihe Räder schlug. Beim zweiten Rad hörte ich einen lauten Knall, spürte wie mein linker Arm unter mir nachgab und ich hinfiel. Erschrocken versuchte ich herauszufinden, was geschehen war. Dann erst begann der Arm wehzutun und ich begriff, daß jemand auf mich geschossen hatte. Die anderen schlossen den Vorhang, kamen zu mir gerannt, jemand band den verletzten Arm ab und ich verlor die Besinnung.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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