10/06

Reinkarnationserinnerung: Joitha der Akrobat

F65.

Der Kleine

Nach drei Wochen holte der Herr mich ab und brachte mich nach Hause. Die anderen hatten ein kleines Fest für mich vorbereitet, weil sie sich freuten, daß ich wieder da war.

Die kleine Küche war geschmückt, jemand hatte Kuchen gebacken und weil ich Kaffee nicht so mochte gab es auch leckeren Kakao.

Dann sah ich ihn. Über sein Aussehen gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Er sah halt so aus wie wir alle und war sicherlich erst 20, denn er war deutlich kleiner als ich. Ich starrte ihn sekundenlang überrascht an, weil ich damit nun wirklich nicht gerechnet hatte, dann riß ich mich zusammen, lächelte ihm zu und sagte: "Hallo Kleiner."
"Selber Winzling!" gab er zurück.
Ich lachte, sprang zu ihm hoch und setzte mich auf meinen Stuhl, der neben dem neuen Stuhl für ihn stand.
"Nicht wahr - die Leute hier sind unglaublich verrückt - aber nett." sagte ich.
"Ja." sagte er und lächelte.

Den Rest des Abends unterhielt ich mich nur noch mit dem Kleinen. Ich konnte mich noch sehr gut erinnern, wie sehr mich am Anfang alles verwirrt und verängstigt hatte. Natürlich hätte ich das niemals zugegeben. Aber mir war klar, daß dieser Kleine, der frisch aus der Firma kam, jemandem brauchte, dem er vertrauen konnte und der ihm alles erklärt und dazu war niemand besser geeignet als ich, weil ich eben wußte, wie es ist. Und außerdem müssen wir doch zusammenhalten. Er hieß übrigends Jeremias.

Sobald ich den Herrn allein erwischte, sagte ich ihm, daß ich mit ihm reden müsse. Also gingen wir zusammen ins Büro und er fragte mich, was los ist.
"Warum hast du Jeremias gekauft?" fragte ich.
"Ich dachte mir, da du nicht mehr spielen kannst brauchen wir jemanden, der deine Rolle übernehmen kann. Er war übrigends viel billiger als du." antwortete er.
Nicht zu fassen! Ich startete eine Pressecampagne gegen Firma Festrana, und der, der mir alles über Öffentlichkeitsarbeit und Geld beigebracht hatte, was ich wußte, hatte nicht begriffen, worum es mir dabei ging.

Andererseits mußte er mich wirklich mögen, wenn er so viel für mich getan hatte obwohl er meinte, daß ich nie wieder spielen könnte.

"Also erst mal - selbstverständlich kann ich noch spielen. Wie kommst du darauf, daß ich das nicht mehr kann?"
"Aber wie willst du das mit nur einem Arm machen? Du kannst nicht mehr Radschlagen und Jonglieren und..."
"Radschlagen ist kein Problem, das geht auch mit einem Arm. Jonglieren geht eher nicht mehr, da kann man mit einem Arm nicht so viel machen - aber darauf kommt es auch nicht an. Das Wesentliche am Schauspiel ist doch nicht, was man mit dem linken Arm macht, das Wesentliche ist, wie man die Gefühle rüberbringt, wie man zum Puplikum spricht. Und das hängt doch nicht davon ab, ob ich zwei gesunde Arme habe! Gut - wir müssen dann einiges umplanen, weil ich nicht mehr auf dieselbe Weise spielen kann. Außerdem brauche ich einige Ösen, damit ich mit einem Schnürsenkel den gelähmten Arm bei Bedarf am Körper festbinden kann." erklärte ich.

Bevor er mir widersprechen konnte, wechselte ich das Thema:
"Aber was mich daran eigentlich geärgert hat: hast du dir jemals überlegt warum ich der Presse so viel über Firma Festrana erzählt habe?"
"Na ja - es war eine recht anrührende Geschichte und eine wirkungsvolle Pressekampagne." meinte er.
"Ja - aber nicht hauptsächlich für diese Truppe - hauptsächlich wollte ich damit die Firma Festrana schädigen, die mich als kleines Kind so oft hat foltern lassen. Und es hat funktioniert. Immer weniger Menschen haben welche von uns bei Festrana gekauft. Nur du kaufst gedankenlos dort ein, obwohl du weißt, daß sie uns foltern, um so leichter Geld zu verdienen. Was hast du dir dabei gedacht?"
"Ich dachte du hast dich über Jeremias gefreut?"
"Ich habe mich um ihn gekümmert, weil ich weiß daß er im Augenblick ziemlich verunsichert ist und Angst vor der Zukunft hat. Und mir vertraut er am ehesten, weil er sieht daß ich einer von uns bin."
"Der hat doch keine Angst - der ist doch frech wie sonst was!" widersprach der Herr mir.
"Ich war auch frech wie sonstwas - aber ich hatte die ganze Zeit Angst - ich hätte es nur nie zugegeben weil ich nicht wußte, daß ihr mir dann geholfen hättet."
Der Herr wußte darauf nichts mehr zu sagen.

In den nächsten Tagen sprach mich jedes Mitglied der Truppe einzeln an und fragte ob ich wirklich Angst gehabt hätte, in den ersten Tagen hier. Ich bestätigte es ihnen. Und dann sagten sie:
"Das hätte ich nie gedacht. Du wirktest so selbstsicher."
"Ja." antwortete ich "Ich bin ja auch Schauspieler."
Jeremias gewann ich schnell sehr lieb. Eigentlich steckten wir von da ab ständig unter einer Decke.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


F6. Kersti: Fortsetzung: Interview mit Messerwurf
F6. Kersti: Voriges: Das Krankenhaus
FI6. Kersti: Inhalt: Joitha der Akrobat
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Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de