4/2010
Mich machte das neugierig. Ich besuchte sie und unterhielt mich einige Stunden mit mir, darüber wie unterschiedlich wir aufgewachsen waren. Sie war auch damit einverstanden, das eventuell für einen Film zu verwenden - natürlich nur nachdem sie die Scenen, die verwendet werden sollten, einzeln genehmigt hatte. Manche Einzelheiten sind zu privat für einen Film.
Wir trafen uns wieder und diesmal schleppte sie mich zu ihrer Firma. Wahrscheinlich war
sie sich nicht sicher, daß sie mich überzeugt hatte. Am Firmentor mußte sie ihren Paß vorzeigen und als der Wachmann sah, welche Seriennummer sie hatte, tadelte er:
"Gemana, du hast dich wieder nicht angemeldet. Du weißt, doch daß du mindestens einen
Tag vorher bescheid sagen sollst, wenn du vorbeikommst!"
"Ach Mutti hat doch bestimmt Zeit für mich!" entgegnete sie.
"Wen hast du da überhaupt dabei?"
Ich stellte mich vor und fragte auch gleich, ob
ich filmen dürfe. Der Wachmann erkundigte
sich beim verantwortlichen Leiter, der mich
sofort sprechen wollte.
Wir gingen also zuerst in sein Büro und er
fragte mich, was ich denn mit dem Film wolle.
"Wenn Gemana mich nicht völlig über ihre
Kindheit belogen hat, wird das das positive
Gegenbeispiel zu dem was ich als Kind erlebt
habe." erklärte ich und zeigte ihm die Filmscene mit Gemana, die auch schon mit dem
Filmproduzenten abgesprochen war.
Dann durften wir Gemanas Amme besuchen.
Beim Betreten des Zimmers hatte ich den Eindruck, hunderte von Kleinkindern und Babys würden wie wild durcheinanderwuseln und mit weichen Bauklötzen, Bällen, und Kuscheltieren spielen. Es gab eine kleine Rutsche, die sie selbständig herunterrutschen konnten, sobald sie alt genug waren, um zu krabbeln und vor dem Fenster gab es ein Stückchen Garten zum spielen.
Als wir hereinkamen, wurde Gemana sofort von den Kleinen bestürmt, daß sie schaukeln wollten. Ich sah wie Gemana nach einem Schlüssel an der Zimmerwad griff und ihn umdrehte. Dann wurde eine Art großer flacher Korb von der Decke heruntergelassen, sie setzte ein paar der Kinder hinein und schaukelte sie sacht hin und her. Sie erklärte mir, daß die Ammen so etwas nicht noch neben ihrer sonstigen Arbeit schaffen und daß das deshalb immer von älteren Geschwistern gemacht wird.
Und dann begannen sie auch noch an mir hochzukrabbeln. Ich erstarrte, weil ich überhaupt nicht wußte, wie ich damit umgehen sollte.
"Was ist denn mit dir los - hast du etwa
Angst vor Kindern?" fragte mich eine große
rundliche Menschenfrau.
"Wir durften nicht spielen." erklärte ich.
Die Frau erklärte mir, daß spielen wichtig für
Kinder ist, weil sie sich sonst nicht gesund
entwickeln und kein vernünftiges Sozialverhalten erlernen.
"Na das weiß ich. Deshalb haben wir ja mit
den jüngeren Brüdern heimlich gespielt und
ihnen beigebracht, wie man zusammenhält,
damit sie nicht alles mit uns machen können." antwortete ich.
Sie saß gerade neben einem Gitter hinter dem
etwas ältere Kinder unter der Aufsicht von einem deutlich älteren Paar spielten. Sie erklärte
mir, daß das auf der anderen Seite des Gitters
der Kindergarten war und daß die Kinder, die
jetzt direkt neben dem Gitter spielten, gerade
erst in den Kindergarten gekommen waren, wo
sie lesen schreiben und rechnen und die
Grundlagen der Schauspielkunst und Akrobatik
lernen sollten.
"Ich habe mich hierher gesetzt, weil sie bisher
nie lange ohne mich waren und es noch nicht
aushalten könnten, mich den ganzen Tag
nicht zu sehen." erklärte sie mir.
Diese Frau war Gemanas Amme. Wie meine Amme auch, war sie ein normaler Mensch, der besonders auf leichte Geburten und ausreichend Milchproduktion und Mütterlichkeit hin gezüchtet war. Im Gegensatz zu meiner hatte Gemanas Amme einen Hochschulabschluß in Erziehungswissenschaften und die Ausbildung einer Grundschullehrerin. Zusätzlich wurde von ihr erwartet, daß sie sich regelmäßig fortbildete.
Bei der Arbeit half ihr ein Mann, der sterilisiert worden war, damit sie auch miteinander schlafen konnten, wenn sie wollten. Sie waren an derselben Schule für ihre Aufgabe ausgebildet worden und da jede Amme einen Mann haben sollte, der ihr half und es der Firmenleitung egal war wer mit wem zusammenkam, so lange jede Frau einen Mann aus dem zugehörigen Parallelkurs nahm, durften die Paare einander aussuchen. Es gab Zeiten, in denen jede Hand gebraucht wurde - aber auch die Möglichkeit sich zu anderen Zeiten ein wenig Freizeit abzuknapsen, indem man sich gegenseitig bei der Arbeit vertritt.
Im Kindergarten arbeitete ein Paar, das schon über die Wechseljahre hinaus war.
Auch hier gab es eine männliche Zuchtlinie, die ebenfalls die Gene hatten, die uns so klein bleiben ließen.
Ich habe mir auch den Unterricht für die älteren Klassen durch eine halbdurchlässige Wand und die Lehrpläne angeschaut. Die Kinder hatten in etwa so viel Unterricht, wie wir es auch gehabt hatten, allerdings war der Umgangston viel netter - die Lehrer durften die Schülerinnen und Schüler nicht körperlich bestrafen, sondern mußten sie motivieren. Und die Lehrer haben die Kinder, so weit ich das mitbekommen habe, zutreffend über ihre Rechte aufgeklärt - ein Mädchen hatte von einer erwachsenen Schwester, die zu Besuch war, gehört, daß eine Kollegin von ihr vergewaltigt worden war. Daraufhin brachte der Lehrer den Kindern einige äußerst gemeine Tricks bei, mit denen man sich unliebsame Männer vom Hals halten kann und die keine Spuren zurücklassen. Und er erklärte, wie man rechtlich gegen so etwas vorgehen kann und wann was am besten funktioniert.
Ich fragte Gemana, was denn mit kranken Kinder passiert. Als sie mir sagte, daß von hundert Kindern nur eines so schwer krank wird, daß es nicht wieder richtig gesund wird. Das wunderte mich schon, denn bei uns waren es zehnmal so viele. Und dann sucht man halt nach dem passenden Platz für das Kind, notfalls indem man es verschenkt. Denn es gibt Leute, die einfach nur einen Kind-Ersatz wollen und bereit sind, sich um ein behindertes Kind zu kümmern. Das wunderte mich auch, denn bei uns schwebte jedes Kind in Lebensgefahr, das nicht perfekt war.
Gemana erklärte, daß doch ein ernsthaft behindertes Kind unter hunderten, das mit aufgezogen wird, obwohl es nichts einbringt viel weniger kostet, als hundert rebellierende Kinder und Betreuer, weil ein Geschwisterchen ermordet wurde.
Da kam mir ein Verdacht, den ich nachrecherchierte: Ich fand heraus, daß Gemanas Zuchtlinie genauso aggressiv war wie wir - nur daß sie seltener Grund hatten, es auszuleben.
Letzlich war also in Gemanas Firma ebenfalls alles darauf ausgerichtet, möglichst viel an den Zöglingen zu verdienen. Nur daß man dort die simple Tatsache bedacht hatte, daß das viel besser klappt, wenn man nicht sinnlos unfreundlich und gemein ist.
Jedenfalls habe ich Gemana geheiratet und vier Kinder mit ihr bekommen, denn sie gefällt mir sehr.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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