erste Version: 10/2019
letzte Bearbeitung: 10/2019

F148.

Kampf für Menschenrechte in der Hölle

Vorgeschichte: F148. Kersti: D


Schweigend kniete ich neben dem Bett des Neuen und hörte ihm zu, wie er mir sein Leid klagte. Er war schön, wie alle Menschen, die außerhalb der Hölle geboren sind, schön sind. Ich schaue mir die Kinder die neu hierherkommen immer sehr gerne an, weil sie so schön sind. Doch mit den Jahren verlieren sie ihre Schönheit und werden grau und krumm wie alle. Wer wie ich in der Hölle geboren ist, ist richtig häßlich. Ich habe krumme Beine und ein eingefallenes Gesicht, meine Haare sind schon fast alle ausgefallen. Das liegt an der Hölle. Das wußte ich eigentlich schon.

Und doch war es diesmal, als hörte ich das alles zum ersten mal. Er sagte, er wäre zehn und war größer als ich, obwohl ich schon vierzehn war. Er sagte, daß es draußen viel besseres Essen gäbe - auch für Menschen. Das Brot wäre dort nicht schimmelig - überhaupt nicht - und er nannte mir viele Namen von Nahrungsmitteln, von denen ich noch nicht gehört hatte. Ich fragte wie sie aussähen und schmeckten, doch ich konnte mir unter dem, was er erzählte, nichts vorstellen.

Er beschwerte sich, daß es hier kein Licht gäbe - und statt wie früher immer zu widersprechen fragte ich ihn, wie denn das Licht draußen wäre. Auch da verstand ich nicht allzuviel, nur daß es sehr hell sei und ganz weit weg. Er erzählte das Licht würde am Himmel stehen aber er gab mir nur eine absolut sinnlose Erklärung, was Himmel sei. Jedenfalls etwas, das ganz komisch, eigentlich gar nichts ist und weit weit weg ist, so hoch, daß man keine Leiter daranstellen und schauen kann, wie es sich anfühlt. Sehr merkwürdig jedenfalls. Und angeblich viel schöner als hier - wobei er es ja wissen mußte - und wenn er sagte, es ist viel schöner, dann war es das wohl auch.

Ich fragte ihn ob es stimme, daß den Menschen draußen normalerweise nichts wehtut.
"Es stimmt. Mir tut nichts weh. Dir etwa? Bist du denn verletzt?" sagte er.
"Nein. Das kommt einfach von ganz alleine wenn man lebt - dann tuen einem die Gelenke weh. Manchmal, wenn die Luft besonders staubig ist, hustet man nicht nur, sondern es kommt auch Blut aus dem Mund. Das tut auch weh. Aber das ist noch ganz normal. Und mit der Zeit gehen von der Arbeit die Gelenke kaputt. Jedem tut hier etwas weh." erklärte ich.

Er erzählte von Tieren - nicht Ratten sondern richtig große Tiere, die man reiten und streicheln kann. Liebe Tiere. Ich konnte mir die Tiere nicht so richtig vorstellen - ein Tier das größer ist als ich, paßt doch gar nicht durch die engen Gänge - das muß sich doch ständig den Kopf stoßen, oder? Und von Großeltern. Eine Großmutter ist die Mutter von einer Mutter und sie lebt immer noch. Eigentlich geht das ja nicht, denn selbst wenn eine Mutter ihr Kind bekommt wenn sie fünfzehn ist kann das Kind doch kein Kind mehr zur Welt bringen, weil die Kinder von Kindern, immer sofort sterben - und außerdem ist dann ja die Mutter so alt daß sie schon so gut wie tot ist - 30 Jahre. Außerdem müßten dann Enkel ja immer sehr winzige Menschen sein, weil Kinder ja nie so groß werden wie ihre Mutter.

Als er sich schließlich in den Schlaf geweint hatte, legte ich mich auch hin - Kinder, die neu hierherkamen, weinten sich immer in den Schlaf und das wochenlang. Und die ersten Tage wurden sie immer gefoltert weil sie weinten statt zu arbeiten. Dann wurde es langsam besser.

Ich aber begann darüber nachzudenken, warum sie so weinten, wie es oben auf der Erde wohl sein mochte, wie Früchte wohl aussehen mochten und Blumen und die Tiere. Ich fragte mich, wie es wäre auf einen Baum zu klettern, und wie sich wohl Blätterrauschen anhört und ob ein Licht wohl wirklich so hell sein kann, daß es in den Augen wehtut.

Ein Arbeitstag hat zehn Arbeitsstunden, eine Stunde Mittagspause und je eine halbe Stunde Früh- und Abendtrinkpause. Danach arbeitet dann die andere Schicht weiter. Zu essen gibt es nur Mittags. Ich arbeitete den ganzen Tag mit meiner Maschine in den Gängen. - Ich hatte eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn ich war ein erfahrener und umsichtiger Arbeiter und wußte wie man damit umgeht. Ich arbeitete fünf Stunden, dann war es Mittag und ich durfte meine Maschine abstellen, um mein Brot vom Küchenwagen in Empfang zu nehmen. Diesmal war es fast gar nicht verschimmelt - wie immer am Anfang der Woche. Am Ende der Woche ist es dagegen immer ganz von Schimmel überzogen und man kann es kaum noch essen. Manchmal ist am Ende der Woche auch einfach nichts mehr da. Da ich keine Zähne mehr hatte, brach ich es Stück für Stück klein und lutschte es dann. Als kleines Kind hatte ich Zähne gehabt, doch die taten immer nur weh, bis sie schließlich ausgefallen sind.

Ich ging hinüber zu Tanisa, dem Gott, der in unserem Bereich die Befehle erteilte und fragte: "Du, stimmt es, daß der Himmel so hoch ist, daß man keine Leiter dranstellen kann, um nachzuschauen, wie sich die Sterne anfühlen?" fragte ich.
"Ja. Das stimmt. Aber es gibt große Wagen mit denen man zu den Sternen fahren kann. Sie fliegen wie eine Fliege in den Himmel." erklärte er.

Ich fragte ihn nach den Dingen, von denen der Junge mir erzählt hatte und Stück für Stück bestätigte der Gott mir in den Mittagspausen der nächsten Tage all diese unglaublichen Geschichten.

Von da ab fragte ich jedes Kind, was von draußen kam, aus, wie es dort sei und versuchte zu verstehen. Menschen bekommen immer erzählt, daß sie in die Hölle kommen, weil sie böse sind. Ich habe nachgefragt und was sie erzählt haben, was sie Böses gemacht haben, das war gar nicht schlimm. Es war nicht böse, vielleicht mal ein bißchen frech, so wie zwischen Freunden, die einander einen Streich spielen. Aber nicht wirklich böse. Es waren alles ganz liebe Kinder. Wenn es Erwachsene waren, dann waren sie auch nicht böse - sie haben meist ein paar Fragen mehr gestellt als die Götter wollten - aber böse waren sie nicht. So kam ich darauf, daß es wohl nicht daran lag, daß die Menschen böse waren, sondern daran, daß die Götter böse sind. Nicht alle. Aber die, die kleinen Kindern erzählen, daß sie in die Hölle kommen, weil sie böse sind.

Tanisa, unser Gott war nicht böse. Eigentlich war er ganz nett und brachte uns manchmal frisches Brot mit, wenn am Ende der Woche nichts mehr ausgeteilt wurde. Und auf dem Brot war immer etwas ganz merkwürdiges, was sehr gut schmeckte. Er nannte es Butter. Er sagte dann, daß er es für uns gekauft hat - ich habe gefragt was kaufen ist und er erklärte, daß man Geld gibt und dafür bekommt man etwas. Woraufhin ich fragte, was Geld ist und er mit einer ziemlich verworrenen Erklärung rausrückte, die im Grunde nur besagte, daß alle Leute vollkommen wertloses Metall für wertvoll halten, damit die anderen ihnen etwas dafür geben. Ich finde das zwar nicht sehr logisch - aber weitere Fragen brachten mir leider keine logischere Erklärung ein.

Ich merkte, daß er es mochte, wenn ich ihm Fragen stellte. Er sagte dann immer, daß ich klug sei. Was mich ziemlich verwirrte, denn eigentlich sind nur Götter klug und Menschen sind dumm. Schließlich fragte ich nach:
"Du, warum sagst du ich bin klug? Ich bin doch kein Gott."
"Klug ist, wenn man gut denken kann."
"Aber ich kann doch gar nicht denken."
"Doch natürlich kannst du denken, wie kommst du denn darauf?"
"Na ja - Menschen können schreiben und lesen lernen und sprechen und im Kopf sprechen wir auch - und Götter denken und können gedankenlesen und Gedankensenden und denken - oder?"
"Nein, nein - wenn du in deinem Kopf sprichst ist das auch denken. Und wer gut im Kopf sprechen kann kann auch gut denken." erklärte er.
"Aber manchmal ist da auch ein sprechen, das gar kein richtiges sprechen ist. Wie so Edelsteinsplitter ganz schön und ganz kompliziert." erklärte ich.
"Dann kannst du vielleicht auch gedankenlesen. Setz dich mal hin - und stell das Sprechen in deinem Kopf ab - kannst du das ?"

Ich nickte.
"Gut. Und siehst du meine Kristalle?" ich fühlte in mich hinein und tatsächlich da war etwas.

Es war eine Warnung, daß ich mit niemandem sonst darüber sprechen durfte, denn manche Götter machen häßliche Dinge mit Menschen, die so etwas können. Vorsichtig verknüpfte ich es mit meinen Gedanken, daß eigentlich nicht die Menschen, die hierhergeschickt werden, böse sind, sondern die Götter, die sie hierherschicken. Er warnte mich, daß ich das bloß keinem anderen Gott erzählen sollte und ich sagte ihm daß ich das wüßte - aber er wäre anständig und deshalb dürfte er das wissen.

Ich hatte ja auch nicht mit den anderen Menschen darüber geredet, weil sie es allen erzählt hätten und dann bestraft worden wären, wie die Erwachsenen, die in die Hölle kamen. Ich fragte mich, warum diese Erwachsenen nicht so schön waren wie die Kinder, die in die Hölle kamen. Ich fragte einige dieser Erwachsenen und sie erzählten mit von Foltern.

"Was sind Foltern?"
"Das ist wenn dir jemand absichtlich solche Schmerzen zufügt, daß du glaubst es nicht mehr ertragen zu können."
"Du meinst Kinder in der Hölle aufwachsen lassen ist Folter?" fragte ich.

"Nein, wie kommst du denn darauf?" Ich erzählte von den Zeiten, wo ich glaubte die ständigen Schmerzen nicht mehr ertragen zu können, wo ich mir wünschte, endlich tot zu sein und keine Schmerzen mehr zu haben. Ich wußte, daß diese Zeiten vorübergingen und deshalb tat ich nie wirklich etwas, wovon ich hätte sterben können. Aber - daß ich das einzige Kind der Hölle war, das einigermaßen gesund vierzehn Jahre alt geworden war, zeigte, daß andere darüber anders dachten.
"Du meinst sie begehen Selbstmord?" fragte der Mann.
"Was ist Selbstmord?"
"Wenn man etwas tut, um zu sterben."
"Ja. Gera, meine beste Freundin hat mir vor ein paar Jahren erzählt, daß sie nichts mehr essen will und mir all ihr Brot gegeben und dann hat sie nichts mehr gegessen und ist gestorben." erklärte ich.
"Folter ist noch ein klein wenig anders - hier interessiert sich niemand dafür, ob uns etwas wehtut oder nicht. Bei Folter tun sie etwas, extra damit es wehtut."
"Aber warum denn das?" fragte ich fassungslos.
"Um einen dazu zu zwingen, etwas zu tun, was man nicht tun will..."
"Niemand kann mich zwingen, Dinge zu tun, die ich nicht tun will." wiedersprach ich mit einer aus tiefster Seele kommenden Überzeugung.
"Sag das nicht, Kind. Du weißt nicht was Folter ist." antwortete der Mann traurig.
"Niemand kann mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht tun will." wiederholte ich.

Doch ich sah, daß er mir nicht glaubte.

Danach in den Tagen, Wochen und Monaten fragte ich Tanisa aus, warum alles hier in der Hölle so war, wie es war. Und ich stellte fest, daß so manches eigentlich ziemlich dumm organisiert war. Richtig verblüffend war beispielsweise daß am Anfang der Woche immer drei Lastwagen mit Brot angeliefert wurden, die dann bis zum Ende der Woche vollständig verschimmelt waren in den feuchten Lagerräumen. Als ich fragte, warum nicht alle zwei Tage ein Lastwagen kommt, damit man immer gutes Brot hat, meinte der Gott, daß einfach noch niemand auf den Gedanken gekommen sei.

Als ich ihn fragte, warum die Götter etwas so Dummes machen, sagte er, daß sie nur an sich selbst denken. Ich aber sagte ihm daß es eher so aussähe, als würden sie gar nicht denken - denn verschimmeltes Brot macht krank und wer krank ist, kann irgendwann nicht mehr arbeiten und dann wird er getötet und dann müssen sie einen neuen Menschen kaufen und das ist teuer und dafür hätte man viele gute Sachen kaufen können. Der Gott lachte und sagte wieder, daß ich klug sei. Und ich nahm nach dieser Logik die gesamte Organisation der Minen auseinander.
"Du Geri, bist du bereit vor dem Rat der Minen zu sprechen und ihnen deine Verbesserungsvorschläge zu erzählen?" fragte unser Gott mich eines Tages.
"Meinst du, sie hören auf mich?" fragte ich zurück.
"Ja. Ich denke schon." antwortete er.

"Dann will ich sprechen." entschied ich.

Meine Überlegungen über die Organisation der Hölle gingen in Wirklichkeit nämlich alle darum, die Lebensbedingungen in der Hölle zu verbessern. Das allerdings kann man Egoisten nur über das "so verdient ihr doch viel mehr"-Argument schmackhaft machen.

Kersti

Fortsetzung:
F148. Kersti: D

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben