F1475.

Ich wußte natürlich, daß Kinder aus meiner älteren Zuchtgeneration die Operationen meist schlechter vertragen, machte mir aber auch nicht ernsthaft Sorgen

Vorgeschichte: F1474. Jender LZB99-950-41: Einerseits möchte ich möglichst lange leben, andererseits fühle ich mich behindert, wenn ich die betrachte, die die Operationen hinter sich haben und sich direkt an die Elektronik anschließen können

Jender LZB99-950-41 erzählt:
Im Umkleideraum wartete mein Klassenkamerad Silvan LZB99-1000-22 auf uns. Man sah ihm an, daß er eine jüngere Mutter hatte als ich, denn sein Kopf war erkennbar größer als meiner. Sie war bei seiner Geburt erst zwei Jahre in der Zucht gewesen, trotzdem war er ihr 22. Kind, denn sie bekam jeden Monat eines, das dann in vitro aufgezogen wurde, bis es alt genug für den Brutkasten war. Ich nehme an, daß sie ihn ausgewählt hatten, um unsere Fragen zu beantworten, weil er die Operationen am besten vertragen hatte. Das machten sie nämlich meist so.

Ich wußte natürlich, daß Kinder aus meiner älteren Zuchtgeneration die Operationen meist schlechter vertragen, machte mir aber auch nicht ernsthaft Sorgen. Die anderen Kinder meiner Mutter hatten keine wirklich schlechten Überlebensraten, sonst wäre meine Mutter früher aus der Zucht aussortiert worden und hätte nicht Kinder bekommen sollen, bis es wirklich nicht mehr anders geht, als die Gebärmutter herauszuoperieren. Sie hätte auch nicht mehrere Kinder und Enkel in der Zucht, wenn sie keine ausgesprochen wertvolle Zuchtmutter für ihr Alter gewesen wäre.

Wir unterhielten uns über solche Details wie welcher Arzt wen operieren würde und wie der fachliche Ruf der einzelnen Leute war, welche gringfügigen Einzelheiten an der Operationstechnik verbessert worden waren und als ich aufgerufen wurde, ging ich duschen und danach in den Operationssaal.

Die Operationsliege war das Gegenteil von bequem, denn sie bestand nur aus ein paar Stangen, die drehbar gelagert waren und an denen man mit gepolsterten Manschetten, so festgeschnallt wurde, das man sich nicht rühren konnte. Das machten sie, damit sie problemlos von allen Seiten an uns drankamen. Neu war, daß die Ärzte entschieden haben, daß sie den Lähmstrahler nicht mehr benutzen, sondern lieber mit uns reden können wollen. Außerdem hatten wir uns den Operationsplan durchlesen sollen und sollten die einzelnen Schritte der Operation ansagen. Ich hielt diese Änderung für eine Verbesserung, weil man sich da nicht ganz so hilflos fühlt und wenn man irgendetwas bemerkt was schief läuft, dann kann man das sagen.

Tatsächlich gelang es mir aber nicht wirklich, mit den Leuten zu reden, weil ich die meiste Zeit zu sehr mit den Schmerzen beschäftigt war. Sowohl Teros als auch Silvan war es sehr viel leichter gefallen, mit den Schmerzen fertig zu werden als mir. Da hatte die Zucht offensichtlich Fortschritte gemacht, denn es konnte ja nicht weniger wehtun, wenn alle Organe aus dem Bauchraum entfernt werden, statt lediglich einen künstlichen Darmausgang zu legen. Aber das muß man halt einfach durchstehen. Sie kastrierten mich, schnitten dann den Bauch auf, um den Darmausgang an die Seite zu verlegen und dort den Anschluß für die Sanitäranlagen des Bettes einzubauen. Zuletzt schnitten sie meinen Hals auf und bauten dort den Zugang für die künstliche Ernährung und Beatmung ein, so daß ich von da ab gar nicht mehr sprechen konnte, weil die Anschlüsse unter dem Kehlkopf waren und keine Luft mehr durch den Kehlkopf lief.

Danach wurde ich samt den Stangen in ein Bett mit den entsprechenden Anschlüssen gepackt und sollte mich eine Woche von den Operationen erholen. So war es dann auch einigermaßen bequem, weil jetzt Polster da waren, wo man nicht direkt über den Stangen lag. Ich war immer noch festgeschnallt, aber nicht so, daß ich mich nicht hätte befreien können, denn dieses Schnallensystem war dasselbe das in Beibootflügen verwendet wurde und da schnallt man sich selber fest und wieder los. Es verhindert sehr wirkungsvoll unbeabsichtigte Bewegungen aber wenn man seine Sinne beisammenhat, weiß man schon, wie man sich losmachen könnte - nur durfte ich das nicht, damit ich mir die Implantate nicht selber wieder rausreiße und blieb deshalb im Bett, bis der Arzt mir das Aufstehen erlaubte.

Sie hatten mir eine Tastatur unter die Hände gelegt und einen Bildschirm so angebracht, daß ich ihn im liegen gut sehen konnte. Das taten wir vorgeblich, weil es keinen Grund gab, jetzt keine Fortbildungen zu machen, schließlich war diesmal nichts am Kopf operiert worden. Der eigentliche Grund war, daß wir das mit Hilfe der Zuchtmenschen unter dem Personal eingeführt hatten, damit wir uns, während wir darauf warteten, daß die Operationswunden richtig verheilen und uns deshalb kaum rühren durften und nicht sprechen konnten, wenigstens irgendwie verständigen und beschäftigen konnten. Ich machte natürlich auch wirklich Fortbildungen, sonst wäre es mir im Bett einfach zu langweilig geworden, aber ich nutzte das Gerät auch, um auf die Überwachungskameras zuzugreifen und nachzuschauen, was die anderen machen. Schließlich weiß jeder außer den Freigeborenen, die nicht beruflich für Überwachung zuständig sind, wie das geht. Die Freigeborenen wären wahrscheinlich sehr überrascht, wenn sie wüßten, was wir alles über sie wissen und daß das ein Vielfaches von dem ist, was sie über uns wissen.

Es dauerte einige Tage, bis die Schmerzen einigermaßen nachließen. Einen Tag vor der nächsten Operation durfte ich dann endlich wieder aufstehen. Da ich jetzt das Kehlkopfimplantat umschalten konnte, um normal zu atmen und zu essen konnte ich dann auch wieder sprechen. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine Mutter zu besuchen, die ich, seit ich ins Gymnasium gekommen war, nur über die Überwachungskameras gesprochen hatte und verbrachte einige Zeit damit, Klassenkameraden zu besuchen, die noch nicht aufstehen durften. Dann stand die nächste Operation an.

Ich wußte, daß die Operation, wo wir die Elektronik in den Körper eingepflanzt bekamen, die weitaus schlimmere war. Die meisten hatten danach drei Tage lang so Schmerzen, daß sie außer Schmerzen gar nichts mehr fühlten, daher rechnete ich damit, daß es schlimm würde. Es wurde noch schlimmer, wobei ich zunächst nicht wußte, daß ich wirklich kranker geworden war als normal, denn wenn alles nur aus Schmerzen besteht, verliert man auch das Zeitgefühl. Ich hatte nur das Gefühl, in einer Ewigkeit aus Schmerzen gefangen zu sein und daß es nie wieder aufhören würde.

Irgendwann wurde ich dann doch wieder wach und merkte, daß ich etwas hatte, was sich wie ein fremdes Gedächtnis anfühlte. In Wirklichkeit handelte es sich natürlich um die Stationsdatenbank, auf der ich gelandet war, weil ich mich gefragt hatte, welchen Tag wir haben. Da ich schon einmal dabei war prüfte ich alles, was ich gerade wissen mußte, nach und stellte erschrocken fest, daß ich zu lange bewußtlos gewesen war. Ich hatte doch mit Teros verabredet, daß ich sein Kapitän sein sollte und er mußte in einer Stunde abfliegen. Ich wandte mich an das Stationsgehirn und die Zuchtmenschen unter den Vorgesetzten, damit sie mich rechtzeitig auf das Schiff brachten, bevor es abflog, was sie auch irgendwie noch gedreht bekamen, da sich mich gegen einen anderen Technker austauschen konnten. Mich formal als Kapitän eintragen, bekamen sie aber nicht mehr hin.

Wenn die Freigeborenen das bemerkt hätten, hätten sie wahrscheinlich etwas dagegen unternommen, denn Freigeborene werden von einer schweren Seuche namens Neid geplagt. Sie hatten eine Aufgabe, die keiner von ihnen haben wollte, weil sie mit Operationen verbunden ist, die eine schwerwiegende Folter darstellen. Deshalb haben sie eine Zucht eröffnet, um jemanden zu haben, der keine Möglichkeit hat, sich dagegen zu wehren. Sie wollen auch keine Beschwerden über diese unzumutbaren Arbeitsbedingungen haben, sondern man sollte damit gefälligst zufrieden sein. Immerhin hatten die ersten Menschen, denen diese Operationen aufgezwungen worden waren, kein Jahr überlebt, bevor sie unter furchtbaren Qualen und Krämpfen gestorben sind.
F1469. Kersti: Der Anschlußstecker
So etwas wie Freizeit, was sie für anständiges Essen und Urlaub halten, gönnen sie uns auch nicht, also haben wir keine derartigen Rechte. Natürlich hungern wir trotzdem nicht, weil wir ja gar nicht arbeiten können ohne zu schlafen, zu essen und ausreichend Pausen zu machen, daß wir überhaupt leistungsfähig sind. Wir achten aber darauf, daß sie unsere Pausen nicht sehen, weil sie sonst anfangen Ärger zu machen. Und wenn sie bemerken, daß wir tatsächlich an der Arbeit Freude haben, was wir haben, denn jeder der sie nicht gern machte, war ja wegen schlechterer Leistung aussortiert worden, dann wurden sie neidisch. Nur wollten sie die Freude gefälligst ohne die Arbeit, weil alle Freude ihnen zu gehören hat und alle Arbeit uns. Ich weiß nicht, wie sie darauf kamen, denn das war ja absurd. Freude an Arbeit entsteht schließlich eben daraus, daß man sich Kompetenzen erwirbt, sich anstrengt, seine Arbeit gut zu machen und sich an den Erfolgen freut. Arbeitsfreude gibt es nicht ohne Arbeit und das sollte offensichtlich sein. Tatsächlich kann man Freigeborenen sogar beibringen, gerne zu arbeiten, wenn man die Möglichkeit hat, ihnen Befehle zu geben und diese auch durchzusetzen. Trotzdem sind die meisten so schwerwiegend von Neid befallen, daß man sie erst geraume Zeit zwingen muß, bevor sie bemerken, daß arbeiten Spaß macht. Wenn einem gelungen ist ihnen den Spaß an der Arbeit zu vermitteln, mögen sie einen plötzlich, während sie einen vorher mit einem Gebrauchsgegenstand verwecheln, den man in die Ecke stellt, wenn man ihn nicht mehr braucht. Neid ist wirklich eine Krankheit.

Kersti

Fortsetzung:
F1467. Teros LZB99-973-12: Als ich ihn danach fragte, sagte Siram, daß er einfach froh sei, daß diese Quälerei jetzt endlich vorbei wäre

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben