erste Version: 10/2019
letzte Bearbeitung: 10/2019

Der Löwenmensch

F1484.

Das Gehirn

Vorgeschichte: F1483. Kersti: D

Der Löwenmensch erzählt:
Als ich meinem Freund das erste mal vorschlug, den Schlüssel wirklich zu benutzen, hatte ich ihn vorher sorgfältig erkunden lassen, ob wirklich jeder, der uns erwischen könnte, weit genug weg war. Dann erst schloß ich die Kette auf und machte mich mit ihm zusammen auf den Weg zu seinem Zimmer.

Schon nach wenigen Metern ertönte eine Stimme aus der leeren Luft:
"Halt."

Verblüfft blieb ich stehen und schaute hoch zu dem Lautsprecher, aus dem sie gekommen war. Mist, da hatte ich wohl etwas sehr Wesentliches übersehen.
"Wenn ihr hier langgeht kann ich nicht vorgeben, euch nicht bemerkt zu haben, also solltet ihr einen Weg nehmen, auf dem ich keine Beobachtungskameras habe." teilte mir die Stimme mit.
"Wer bist du?" fragte ich.
"Kori - das Gehirn des Hauses."
"Was ist ein Gehirn des Hauses?"
"Das ist wenn man vom Menschen alles abschneidet außer dem Kopf und dann einen Computer und viele Maschinen dran anschließt." erklärte das Gehirn.
"Oh - das ist ja fies!" meinte ich.
"Ja. Das ist fies. Aber ich konnte nichts dagegen tun."
"War das Gorrys Vater?" fragte ich.
"Nein. Das war in einem Staatsforschungsinstitut des Drachenreiches. Die brauchten mich, damit ich eines ihrer großen Raumschiffe fliege. Das war zumindest nicht dermaßen tötlich langweilig, wie hier ein Haus überwachen. Schiffe des Menschenreiches haben mein Schiff kaputtgeschossen, ich bin dadurch in Kriegsgefangenschaft geraten und Gorrys Vater hat mich gekauft." erklärte das Gehirn "Geht nun spielen, Kinder. Ihr könnt den Gang zu den Lagerräumen nehmen, da habe ich keine Kameras."

Wir gingen los und spielten in den Lagerräumen.

Wenn ich auch nur annähernd geahnt hätte, welches Risiko er damit einging, hätte ich die Hilfe des Gehirns nie angenommen. So aber spielten wir jeden Tag in den Lagerräumen miteinander und wenn ich wieder angekettet auf der Matratze lag - ich hatte meinem Freund versprochen mich nur loszumachen, wenn er da war - und mich zu Tode langweilte, stellte das Gehirn seine Mikrophone und Lautsprecher so ein, daß wir uns leise miteinander unterhalten konnten, ohne daß jemand uns zuhören konnte.

Das Gehirn erklärte mir, daß man, wenn man mindestens drei Lautsprecher hatte, sie so einstellen konnte, daß es nur an einer bestimmten Stelle zu hören war - das lag an Interferenzen.

Er erzählte mir viele Geschichten von anderen Nichtmenschen. Manche waren gefangen wie ich, andere lebten völlig frei in Kulturen im Drachenreich, die der menschlichen sehr ähnlich waren. Ich liebte diese Geschichten. Viele handelten davon, wie jemand zuerst sich die Möglichkeit erbettelte, lesen lernen zu können und als er lesen konnte, dann so viel gelesen hatte, daß er alle Probleme lösen konnte, weil er so viel wußte. Lesen war also offensichtlich wichtig.
"Tanis, ich muß dir was sagen." sprach mich das Gehirn eines Tages an.
"Was ist denn?"
"Der Herr hat mich an ein Forschungsinstitut verkauft. Sie wollen dort an meinem Gehirn herumschneiden, um zu erforschen, wie sie es im Drachenreich geschafft haben Gehirn und Computer miteinander zu verbinden. Damit bringen sie mich dann natürlich um."

Ich war so entsetzt von dieser ruhigen Ankündigung, daß ich kein Wort herausbrachte.
"Der Herr hat mir gesagt, daß es die Strafe für mein Ungehorsam ist - insbesondere dafür, daß ich ihm nicht gesagt habe, daß du manchmal frei herumgelaufen bist. Ich will, daß du weißt, daß es nicht deine Schuld ist. Bevor ich dich kennengelernt habe, war es mir völlig egal ob ich lebe oder sterbe. Deshalb habe ich einiges getan, von dem ich dachte, daß der Herr mich dafür umbringen würde, wenn er es bemerkt hätte. Jetzt würde ich gerne leben, und bedaure daß ich das getan habe. Es ist nur Zufall, daß er mich von all diesen Sachen, gerade dabei erwischt hat, wie ich dir ein bißchen Freiheit geschenkt habe. Und - weißt du, daß es dich gibt, ist das einzige, wofür es sich für mich zu leben lohnt. Ich will daß es dir gut geht - und daß du weiterlebst, wenn ich sterbe, ja?"

Ich begann zu weinen.

Man sollte annehmen, daß das Gehirn nach diesem Gespräch andere Sorgen gehabt hätte, als wie es mir helfen kann, ein wenig mehr Freiheit zu erlangen. Dennoch gelang es ihm nach diesem Gespräch, den Herrn davon zu überzeugen, daß er es mir erlauben konnte frei herumzulaufen, wenn Gorri die Verantwortung dafür übernahm, daß ich gehorsam war. Zusätzlich überzeugte er den Herrn, daß es nur gut wäre, wenn ich lesen lernen dürfte, wie ich mir wünschte - weil ich mich dann nicht ganz so sehr langweilen würde.

Kersti

Fortsetzung:
F1485. Kersti: D

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben