Schließlich erschien ein junger Mönch in der Tür, in
der Hand ein Tablett mit drei Tellern Suppe. Der Abt winkte ihn herein
und drückte seinem Bruder einen Teller in die Hand:
"Iß."
"Ich habe keinen Hunger." widersprach der junge König.
"Du hast keinen Appetit, weil du mit deinen Gedanken bei den vielen
Toten bist. Aber du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Wenn du es
probierst, wirst du merken, daß du Hunger hast." sagte der
Abt mit ruhiger Autorität.
Als nächstes drückte er mir einen Teller in die Hand. Ich
wollte widersprechen, doch als ich seine Miene sah, sparte ich mir
jedes weitere Wort und versuchte die Suppe herunterzuwürgen. Auch
er nahm einen Teller und ich sah, daß er sich zwingen
mußte, zu essen. Wahrscheinlich hatte er wenigstens zu Mittag
gegessen und brauchte die Malzeit deshalb nicht wirklich. Aber er
mußte ja mit gutem Beispiel vorangehen. Bei dem Gedanken
mußte ich grinsen. Der Abt sah es und grinste zurück. Und er
behielt recht. Ich hatte wirklich Hunger und der Appetit kam beim
Essen. Dem Prinzen schien es genauso zu gehen. Nein, jetzt war er
König - ob ihm das schon so ganz klar war? Wahrscheinlich
nicht. Er hatte immer geglaubt daß sein jetzt toter Bruder einmal
der König sein würde. Und kaum war der Teller leer, schlief
er ein. Ich sah auf - in das Gesicht des Abtes und wir beide
lächelten und legten ihn ins das Bett des Abtes.
"Können wir einmal unter vier Augen miteinander
sprechen?" fragte der Abt mich.
Ich sah ihn erstaunt an und nickte. Ich hatte keine Ahnung, warum er
ausgerechnet mit mir sprechen wollen könnte.
"Gut dann komm mit." sagte er und führte mich aus dem
Häuschen.
Die meisten Gardisten schliefen schon, nur zwei hielten Wache.
Vernünftig.
"Garid, du gehst zum König und hältst am Bett Wache. Er
soll diese Nacht keine fünf Minuten allein sein. Er hat heute
fast seine gesamte Familie verloren." befahl ich.
Er nickte.
"Ich könnte Mönche dazu einteilen." meinte der Abt
und betrachtete mitleidig die müden Mienen der Gardisten.
"Nein. Es müssen Männer sein, die er kennt und denen er
vertraut. Mit den Gardisten hat er kämpfen gelernt."
antwortete ich.
Er nickte.
Dann führte er mich in eine leere Mönchszelle und sevierte
mir formvollendet Tee, während ich seine nachdenklichen Blicke
spürte und mich fragte, was er ausgerechnet von mir wollen
könnte.
"Wie kommt mein Bruder zu einem so jungen Befehlshaber?" fragte
er schließlich.
Ich lachte:
"Befehlshaber? Ich bin kein Befehlshaber. Ich bin nur ein einfacher
Gardist, der es sich angemaßt hat, Befehle zu erteilen."
"Es müssen gute Befehle gewesen sein. Die Männer
gehorchen dir."
"Ach das. Klar. In ruhigen Zeiten reißen sich alle drum,
Befehle geben zu dürfen. Wenn alles drunter und drüber
geht, ist jeder froh, wenn jemand anders die Befehle gibt." sagte
ich.
Er sah mich minutenlang ganz merkwürdig an, dann sagte er ruhig:
"Ja. So ist es wohl. Aber du bist hingegangen und hast die Befehle
gegeben, die notwendig waren."
"Was sollte ich tun? Es war ja niemand anders da, der das tun
konnte." entgegnete ich.
"Richtig." antwortete er und musterte mich wieder so
merkwürdig intensiv.
Dann hinterfragte er der Reihe nach jede meiner Entscheidungen, fragte,
warum ich es gemacht hatte, ob nicht etwas Anderes besser gewesen
wäre. Ich begründete, was ich getan hatte, warum ich es
genau so und nicht anders hatte machen müssen. Und das was er
hörte, schien ihn noch nachdenklicher zu machen. Dann schwieg er
wieder lange. Als ich schon dachte, daß er überhaupt nichts
mehr sagen würde, sagte er schließlich:
"Ich werde mit meinem Bruder reden. Du solltest einen Posten
bekommen, der deinen Fähigkeiten entspricht."
Ich warf ihm einen absolut erstaunten Blick zu und kehrte dann zu
meinen Männern zurück, schaute nach, ob alles in Ordnung
war. Es war. Kariv hatte alles gut eingeteilt. Und zu Hause - das
wußte ich - hatte Gared für Ordnung gesorgt. Ich sagte
den Männern, daß sie mich mit für die letzte Wachen
einteilen sollten und legte mich zwischen ihnen schlafen.
Sie gehorchten nicht, sondern ließen mich auf Karivs Befehl hin ausschlafen. Als ich am nächsten Morgen merkte, wie zerschlagen ich mich immer noch fühlte, schwieg ich dazu. Ich hatte tatsächlich mindestens zwei Wachen mit reden verbracht, die die anderen schlafen konnten. Kariv hatte recht gehabt. Am nächsten Morgen redete der Abt noch über eine Stunde mit seinem jüngeren Bruder, dem König. Dann ritten wir zurück zum Hof.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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