"Ich will den Hof verlassen und zu meinen Eltern
zurückkehren."
"Bist du wirklich überzeugt, daß du dort glücklicher
bist?" fragte ich.
"Ja. Hier habe ich ständig vor Augen, was ich alles verloren
habe."
"Wenn du das wirklich willst, kannst du gehen. Die Hälfte des
Soldes bekommst du weiterhin, denn du wurdest im Kampf für den
König verletzt und mehr kann man von niemandem verlangen. Und du
kannst jederzeit zurückkommen, wenn du merkst, daß du hier
lieber leben willst. Zumindest ich werde dich immer als einen von uns
betrachten. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft."
Mein Bruder aber verfiel vor meinen Augen. Er begann zu trinken und tat nichts Sinnvolles mehr. Nicht einmal reiten - was er ja immer noch gekonnt hätte - und was ihm früher solche Freude gemacht hatte. Ich kümmerte mich um das Pferd, das er nicht einmal eines Blickes würdigte, versuchte neben meiner schier unendlichen Arbeit als Gardehauptmann noch irgendwie Zeit für seine beiden Kinder - ein Junge und ein Mädchen - zu finden. Früher war es die größte Freude für ihn gewesen, mit dem Jungen kämpfen zu üben oder beiden Kindern das Reiten beizubringen, jetzt beschwerten sie sich darüber, daß er sie keines Blickes mehr würdige.
Ich versuchte ihn ins Gewissen zu reden. Am Ende, nachdem er sich meine
Worte mit gesenktem Kopf angehört hatte, meinte er:
"Du weißt doch gar nicht, wie das ist, wenn man sein Bein
verloren hat. Du kannst mich nicht verstehen."
"Richtig. Ich weiß nicht, wie das ist. Aber davon ist es immer
noch falsch daß du dich so hängen läßt."
antwortete ich.
An seiner Miene konnte ich erkennen, daß ich ihn nicht wirklich
erreicht hatte.
Und er ging weiterhin ins Wirtshaus und betrank sich den ganzen Tag. Die praktischen Probleme waren lösbar. Ich redete mit dem König und er erhielt offiziell weiterhin die Hälfte seines Soldes, als Invalidenrente. Seine Frau bekam inoffiziell genausoviel - sie sollte sich nicht noch mit ihrem Mann streiten müssen, damit jeden Tag essen auf den Tisch kam. Die Kinder schliefen und frühstückten bei mir und aßen bei ihr zu Abend. Doch es tat mir mehr weh, als ich sagen konnte, daß mein geliebter großer Bruder vor meinen Augen so verfiel und ich nichts dagegen tun konnte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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