Reinkarnationserinnerung - Helden leiden länger

FB11.

Du bist mir etwas mehr wert als mein Arm

Als ich langsam wieder zu mir kam, spürte ich zuerst, daß sich mein Arm anfühlte, als wäre er gerade in kochendes Wasser getaucht worden. Ein heftiges Brennen, das bis knapp über den Ellenbogen reichte. Mein Bruder hatte mir erzählt, daß sich sein rechtes Bein, das fehlende oft so anfühlte. Mit geschlossenen Augen lauschte ich auf die Umgebung. Es war noch jemand im Raum, der sich nahezu lautlos bewegte. Er hatte eine freundliche Ausstrahlung. Ich öffnete die Augen und sah nach meinem Arm. Es war nur noch ein kurzer Stumpf vorhanden. Ich hatte das geahnt. Der Arzt war gut. Ich hatte beobachten können, wie er viele Männer durchbrachte, die unter den Händen seines Vorgängers gestorben wären. Aber selbst er konnte einen Arm, der fast vollständig abgetrennt und völlig von der Blutversorgung abgeschnitten war, nicht retten. Die Bestätigung meiner Ahnung wirkte seltsam beruhigend auf mich.

Dann fragte ich den Jungen - es war der Sohn des Arztes - welches Datum wir hatten.
"Du mußt etwas essen." sagte er statt einer Antwort und verschwand im Nachbarzimmer.
Frustriert schaute ich ihm hinterher. Ich konnte es nicht ausstehen, nicht über die Lage informiert zu sein. Und mir wäre es weitaus wichtiger erschienen, ein paar Fragen beantwortet zu bekommen, als zu essen. Nach wenigen Sekunden kehrte er mit einem Stück Brot zurück und statt meine Frage zu beantworten unterband er jedes weitere Wort von mir indem er sagte:
"Erst essen." und mir gegen meinen Willen ein Stück Brot in den Mund schob. Schließlich gab ich den Versuch, etwas zu erfahren, als sinnlos auf und begann schicksalsergeben zu kauen. Ich schlief ein, bevor ich die Scheibe aufgegessen hatte.

Als ich das nächste mal wieder zu mir kam, war der Arzt selber im Raum. Er sagte mir immerhin, daß fast ein Monat seit dem Kampf vergangen war, ehe er losstürmte, um mir etwas zu essen zu holen. Das letzte Aufwachen war drei Tage her. Und nachdem ich so viel gegessen hatte, wie ich herunterbekommen konnte, war ich noch wach.
"Wie geht es dem König?"
"Dem? Gut." seine Stimme klang merkwürdig ärgerlich.
Eigentlich gab es doch keinen Grund, sich darüber zu ärgern, wenn es dem König gut geht. Oder?
"Und wer kümmert sich um die Garde?"
"Kariv." Immer noch klang Ärger in der Stimme mit.
"Gut. Den hatte ich als meinen Nachfolger haben wollen."
"Tu nicht so als wärest du schon halb tot." fuhr mich der Arzt ärgerlich an.
Ich war verwirrt. So hatte ich ihn noch nie zu einem Kranken sprechen hören. Abgesehen davon hatte ich ihn immer als meinen Freund betrachtet.
"Sag mal, was ist denn mit dir los?" fragte ich.
"Der König hat gesagt, wenn du stirbst, sterbe ich auch."
"Was hat er gesagt?" fuhr ich auf.
"Daß er mich dann hinrichten wird."
"Sag ihm, daß ich mit ihm reden will." sagte ich immer noch wütend.
Dieser Idiot. Ered war ein viel zu guter Arzt, als daß man so etwas mit ihm machen durfte. Einer der absolut für jeden seiner Patienten sein Bestes tut. Das hatte einigen meiner Freunde und einem meiner Brüder nach dem Attentat auf den Vater des Königs das Leben gerettet. Und er war viel zu wertvoll, als daß man ihn für Dinge umbringen dürfte, die er nicht zu verantworten hat.

"Im Ernst. Du wirst nicht sterben." sagte der Arzt plötzlich sanfter.
"Ich weiß. Die Wunde ist längst so weit verheilt, wie sie heilen wird. Und ich fühle mich nicht nach sterben. Nur ein wenig schwach und müde." sagte ich.
"Und es tut mir leid, daß ich an dir ausgelassen habe, was der König gesagt hat. Du hast es nicht verdient."
"Ich kann es irgendwo verstehen. Was ich nicht begreife ist, was im Kopf meines Königs vorgegangen ist. So etwas tut er doch sonst nicht! Ich werde jedenfalls mit ihm darüber reden." versprach ich.

Zwei Tage später kam der König zu mir. Ich hatte in der Zwischenzeit fast nur geschlafen, deshalb hatte es nicht früher funktioniert.
"Bist du mir sehr böse, daß ich alleine ins Gasthaus gegangen bin?" fragte er zaghaft.
"Nein."
"Du hast mir das Leben gerettet und jetzt hast du deinen Arm verloren und das hast du nicht verdient. Du hättest sterben können. Wenn du mir nicht gefolgt wärest, wäre ich jetzt tot. Und ich hätte es verdient gehabt."
Hinter diesen Worten lag Selbsthaß. Und das gefiel mir nicht. Ich lächelte ihm zu.
"Weißt du, deine Worte enthalten nur einen kleinen Gedankenfehler. Du bist mir einfach ein wenig wichtiger als mein Arm. Und womit hätte ich es verdient gehabt, dich zu verlieren?" fragte ich und sah ihn an.
Er schaute verlegen weg, als er die Intensität meiner Gefühle hinter diesen Worten spürte. Meine Worte hatten ihn nachdenklich gemacht und dem Selbsthaß die scharfen Kanten genommen.

"Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du dem Arzt gedroht hast, daß er auch sterben müßte, wenn ich sterbe?"
"Ich dachte, du merkst das nicht."
Ich sah ihn verblüfft an. Manchmal war mein König wirklich noch ein Kind. Eigentlich war es ja kein Wunder. Er war noch sehr jung und er hatte vor einem halben Jahr durch das Attentat seine gesamte Familie abgesehen von seinem ältesten Bruder verloren. Vielleicht brauchte er einfach so etwas wie einen Ersatzvater, an dem er all die kindischen Verhaltensweisen ausprobieren konnte, die Söhne normalerweise auf ihren Vater anwenden. Na ja - vom Alter her kam großer Bruder eher hin. Und er nahm seine Verantwortung als König sehr ernst. Deshalb war es wohl logisch, daß er seine Dummheiten eher im persönlichen Bereich machte.
"Und als du alleine in die Wirtschaft gegangen bist, hast du auch gehofft, daß ich es nicht merke, wie?"
Er sah mich verblüfft an.
"Ja."
"Und wenn ich es wirklich nicht gemerkt hätte..."
"Dann wäre ich jetzt tot." ergänzte er.
Es klang nicht so, als wäre das für ihn eine so schreckliche Vorstellung.
"Himmel Geron, versetz dich doch einmal in meine Lage. Stell dir vor, wie es für mich gewesen wäre, wenn ich nachher erfahren hätte, daß du von Attentätern ermordet worden wärest und ich war nicht da, um dich zu schützen. Meinst du nicht, daß es für mich noch schlimmer gewesen wäre, als es jetzt für dich ist? Bitte Geron, tu mir so etwas nie wieder an. Versprich mir das. Wenn du wieder alleine irgendwohingehen willst, dann sprich es wenigstens mit mir ab."
"Ja. Das verspreche ich dir."
Immerhin. Das Versprechen war ihm ernst.
"Warum hast du den Arzt bedroht? Du weißt doch, daß er immer sein Bestes tut."
"Ich habe mich so geschämt, wegen dir."
"Und dann hast du es noch schlimmer gemacht, indem du noch einem Menschen Unrecht getan hast."
Beschämt nickte er.

Lang und breit setzte ich ihm auseinander, warum er diesen Arzt nie so hätte bedrohen dürfen. Er dachte darüber nach und entschied dann, sich bei ihm dafür zu entschuldigen.

Kersti


FB12. Kersti: Fortsetzung: Eine bessere Welt kann ich dir nicht herbeizaubern
FB10. Kersti: Voriges: Gefährliche Freiheit
FBI. Kersti: Inhaltsübersicht: Helden leiden länger
FB1. Kersti: Zum Anfang: Das Attentat
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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