Dann fragte ich den Jungen - es war der Sohn des Arztes - welches Datum wir
hatten.
"Du mußt etwas essen." sagte er statt einer Antwort und
verschwand im Nachbarzimmer.
Frustriert schaute ich ihm hinterher. Ich konnte es nicht ausstehen, nicht
über die Lage informiert zu sein. Und mir wäre es weitaus
wichtiger erschienen, ein paar Fragen beantwortet zu bekommen, als zu
essen. Nach wenigen Sekunden kehrte er mit einem Stück Brot
zurück und statt meine Frage zu beantworten unterband er jedes
weitere Wort von mir indem er sagte:
"Erst essen." und mir gegen meinen Willen ein Stück Brot in
den Mund schob. Schließlich gab ich den Versuch, etwas zu erfahren,
als sinnlos auf und begann schicksalsergeben zu kauen. Ich schlief ein,
bevor ich die Scheibe aufgegessen hatte.
Als ich das nächste mal wieder zu mir kam, war der Arzt selber im
Raum. Er sagte mir immerhin, daß fast ein Monat seit dem Kampf
vergangen war, ehe er losstürmte, um mir etwas zu essen zu holen. Das
letzte Aufwachen war drei Tage her. Und nachdem ich so viel gegessen hatte,
wie ich herunterbekommen konnte, war ich noch wach.
"Wie geht es dem König?"
"Dem? Gut." seine Stimme klang merkwürdig ärgerlich.
Eigentlich gab es doch keinen Grund, sich darüber zu ärgern, wenn
es dem König gut geht. Oder?
"Und wer kümmert sich um die Garde?"
"Kariv." Immer noch klang Ärger in der Stimme mit.
"Gut. Den hatte ich als meinen Nachfolger haben wollen."
"Tu nicht so als wärest du schon halb tot." fuhr mich der Arzt
ärgerlich an.
Ich war verwirrt. So hatte ich ihn noch nie zu einem Kranken sprechen
hören. Abgesehen davon hatte ich ihn immer als meinen Freund
betrachtet.
"Sag mal, was ist denn mit dir los?" fragte ich.
"Der König hat gesagt, wenn du stirbst, sterbe ich auch."
"Was hat er gesagt?" fuhr ich auf.
"Daß er mich dann hinrichten wird."
"Sag ihm, daß ich mit ihm reden will." sagte ich immer noch
wütend.
Dieser Idiot. Ered war ein viel zu guter Arzt, als daß man so etwas
mit ihm machen durfte. Einer der absolut für jeden seiner Patienten
sein Bestes tut. Das hatte einigen meiner Freunde und einem meiner
Brüder nach dem Attentat auf den Vater des Königs das Leben
gerettet. Und er war viel zu wertvoll, als daß man ihn für Dinge
umbringen dürfte, die er nicht zu verantworten hat.
"Im Ernst. Du wirst nicht sterben." sagte der Arzt plötzlich
sanfter.
"Ich weiß. Die Wunde ist längst so weit verheilt, wie sie
heilen wird. Und ich fühle mich nicht nach sterben. Nur ein wenig
schwach und müde." sagte ich.
"Und es tut mir leid, daß ich an dir ausgelassen habe, was der
König gesagt hat. Du hast es nicht verdient."
"Ich kann es irgendwo verstehen. Was ich nicht begreife ist, was im
Kopf meines Königs vorgegangen ist. So etwas tut er doch sonst nicht!
Ich werde jedenfalls mit ihm darüber reden." versprach ich.
Zwei Tage später kam der König zu mir. Ich hatte in der
Zwischenzeit fast nur geschlafen, deshalb hatte es nicht früher
funktioniert.
"Bist du mir sehr böse, daß ich alleine ins Gasthaus
gegangen bin?" fragte er zaghaft.
"Nein."
"Du hast mir das Leben gerettet und jetzt hast du deinen Arm verloren
und das hast du nicht verdient. Du hättest sterben können. Wenn
du mir nicht gefolgt wärest, wäre ich jetzt tot. Und ich
hätte es verdient gehabt."
Hinter diesen Worten lag Selbsthaß. Und das gefiel mir nicht. Ich
lächelte ihm zu.
"Weißt du, deine Worte enthalten nur einen kleinen Gedankenfehler.
Du bist mir einfach ein wenig wichtiger als mein Arm. Und womit hätte
ich es verdient gehabt, dich zu verlieren?" fragte ich und sah ihn
an.
Er schaute verlegen weg, als er die Intensität meiner Gefühle
hinter diesen Worten spürte. Meine Worte hatten ihn nachdenklich
gemacht und dem Selbsthaß die scharfen Kanten genommen.
"Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du dem Arzt
gedroht hast, daß er auch sterben müßte, wenn ich
sterbe?"
"Ich dachte, du merkst das nicht."
Ich sah ihn verblüfft an. Manchmal war mein König wirklich noch
ein Kind. Eigentlich war es ja kein Wunder. Er war noch sehr jung und er
hatte vor einem halben Jahr durch das Attentat seine gesamte Familie
abgesehen von seinem ältesten Bruder verloren. Vielleicht brauchte er
einfach so etwas wie einen Ersatzvater, an dem er all die kindischen
Verhaltensweisen ausprobieren konnte, die Söhne normalerweise auf
ihren Vater anwenden. Na ja - vom Alter her kam großer Bruder eher
hin. Und er nahm seine Verantwortung als König sehr ernst. Deshalb war
es wohl logisch, daß er seine Dummheiten eher im persönlichen
Bereich machte.
"Und als du alleine in die Wirtschaft gegangen bist, hast du auch
gehofft, daß ich es nicht merke, wie?"
Er sah mich verblüfft an.
"Ja."
"Und wenn ich es wirklich nicht gemerkt hätte..."
"Dann wäre ich jetzt tot." ergänzte er.
Es klang nicht so, als wäre das für ihn eine so schreckliche
Vorstellung.
"Himmel Geron, versetz dich doch einmal in meine Lage. Stell dir vor,
wie es für mich gewesen wäre, wenn ich nachher erfahren
hätte, daß du von Attentätern ermordet worden wärest
und ich war nicht da, um dich zu schützen. Meinst du nicht, daß
es für mich noch schlimmer gewesen wäre, als es jetzt für
dich ist? Bitte Geron, tu mir so etwas nie wieder an. Versprich mir das.
Wenn du wieder alleine irgendwohingehen willst, dann sprich es wenigstens
mit mir ab."
"Ja. Das verspreche ich dir."
Immerhin. Das Versprechen war ihm ernst.
"Warum hast du den Arzt bedroht? Du weißt doch, daß er
immer sein Bestes tut."
"Ich habe mich so geschämt, wegen dir."
"Und dann hast du es noch schlimmer gemacht, indem du noch einem
Menschen Unrecht getan hast."
Beschämt nickte er.
Lang und breit setzte ich ihm auseinander, warum er diesen Arzt nie so hätte bedrohen dürfen. Er dachte darüber nach und entschied dann, sich bei ihm dafür zu entschuldigen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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