Am Ende sagte er schließlich:
"Korith, ich muß dir etwas beichten. Jarem ist tot."
Ich starrte ihn schockiert an und Schulgefühl stieg in mir hoch.
"Ich habe nicht verstanden, warum du ihm so strikt verboten hast,
länger als eine halbe Stunde täglich am Training teilzunehmen.
Ich dachte, wenn er unbedingt will, wird er es schon wissen... Und dann
hat er richtig mitgemacht, so lange bis die Wunde wieder aufgebrochen ist
und jetzt ist er tot."
"Ich bin schuld. Ich hatte gewußt, daß Jarem zu verzweifelt
war, um sich vernünftig zu verhalten. Ich hätte dich warnen
müssen, daß du auf ihn aufpassen mußt, damit er sich
nicht überfordert." widersprach ich.
"Aber du konntest doch nicht wissen, daß es ein Attentat geben
würde." sagte er.
"Natürlich nicht. Ich wußte ja nicht einmal, daß er
sich mit jemandem treffen wollte. - Aber ich konnte auch nicht wissen,
daß es kein Attentat geben würde. Also hätte ich
Vorkehrungen treffen müssen. Jetzt ist es zu spät. Wir
können ihn nicht mehr zum Leben erwecken. Aber du hast etwas daraus
gelernt, nicht wahr?" sagte ich.
"Ja. Das wird mir nie wieder passieren." antwortete er.
Ich nickte. Ich konnte nachvollziehen, wie elend er sich fühlte, weil
durch seine Schuld ein Mann gestorben war. Ich fühlte mich ja genauso.
Das nächste mal würde er diese Art von Verzweiflung erkennen,
wenn er sie sah, und richtig reagieren. Und ich würde das nächste
mal daran denken, daß in so einem Fall jeder Bescheid gesagt bekommen
mußte, der eventuell den Befehl über ihn erhalten könnte.
"Ich habe noch einen Fehler gemacht, und darunter mußte
glücklicherweise niemand leiden, außer mir." sagte ich.
"Du - einen Fehler?" fragte er erstaunt.
"Tu nicht so, als würde Fehler machen nicht zu meinen Fertigkeiten
zählen. In Wirklichkeit bin ich sogar ganz gut darin."
kommentierte ich genervt.
"Aber in den letzten Monaten warst du ein so perfekter Gardehauptmann.
Ich kann mir gar nicht erklären, wie du es geschafft hast, das
zuwegezubringen."
Ich lächelte.
"Ich aber."
"Und wir haben es dir unmöglich schwer gemacht." sagte er.
"Sag nicht wir. Du warst einer von den wenigen, die ihre Arbeit die
ganze Zeit zuverlässig gemacht haben." widersprach ich.
"Das habe ich. Aber ich habe dir nicht alles erzählt, was ich
hätte erzählen müssen. Die Dinge, die du wissen
mußtest, um dich durchsetzten zu können. Woher wußtest du
eigentlich daß Gerid der Rädelsführer war?"
"Gared hat es mir erzählt."
"Gared?" Kariv starrte mich ungläubig an.
"Gared."
Ich konnte seinen Unglauben verstehen. Ich konnte ja immer noch nicht
fassen, was er alles für mich getan hatte.
"Nachdem Geron mich überredet hatte, den Posten als Gardehauptmann
anzunehmen, sind wir zu ihm gegangen und haben es ihm gesagt. Und weil ich
wußte, daß ich viel zu unerfahren war, um diese Aufgabe
erfüllen zu können, habe ich ihn gebeten, mir mit Rat und Tat
zur Seite zu stehen. Und - er hat es gemacht. Er hat nicht nur akzeptiert,
daß ich den Posten bekommen habe, auf den er ein halbes Leben lang
hingearbeitet hat. Er hat mit mir jede Entscheidung haarklein
durchgesprochen, die ich getroffen habe. Und er hat jeden Tag mindestens
einen Fehler gefunden. Und er hat mit mir jede Entscheidung
durchgesprochen, von der ich wußte, daß sie am nächsten
Tag zu treffen war. Ich kann immer noch nicht fassen, was er alles
für mich getan hat und wir haben ihn so ungerecht behandelt."
"Aber wenn du dich für zu jung und unerfahren hältst, warum
hast du den Posten überhaupt angenommen? Und warum hat der König
dich dazu überredet?" fragte Kariv.
"Das war eigentlich nicht seine Idee. Sein älterer Bruder meinte,
Geron bräuchte jemanden, der ihn mit einer Tracht Prügel ins
Bett steckt, wenn er Dummheiten macht. Und er meinte, ich wäre der
einzige, der das auch tatsächlich tun würde. Und deshalb hat er
mir einen Posten verschafft, in dem ich auch die Macht dazu haben
würde."
"Mit einer Tracht Prügel ins Bett... Das kann er doch nicht gesagt
haben!"
"Doch. Geron hat genau diese Worte benutzt, als er mich überredet
hat. Und er hat sie wörtlich von seinem Bruder übernommen. Aber
er hat es natürlich nicht wörtlich gemeint. Und genau dabei habe
ich einen Fehler gemacht."
"Was für einen Fehler?"
"Ich hätte jedem einzelnen Gardisten klar machen müssen,
daß der König selbst dann nicht ohne Wache gehen darf, wenn er
einen ausdrücklichen Befehl dazu gibt. Daß sie ihn notfalls
anketten sollen oder was auch immer. Haril und Kainer haben so einem
Befehl gehorcht und wenn ich dem König nicht trotzdem heimlich
gefolgt wäre, wäre er jetzt tot. So etwas darf einfach nicht
noch einmal passieren, denn dann ist er tot. Ich kann schließlich
nicht überall sein."
"Das ist doch nicht dein Ernst!" fragte Kariv fassungslos.
"Es ist mein völliger Ernst. Und wenn sich jemand daran nicht
hält, werde ich dafür sorgen, daß er aus der Garde
entlassen wird. Außerdem werde ich noch eine Spezialtruppe
ausbilden, die ihn beschatten soll, wenn nicht bekannt werden soll,
daß er mit seiner Garde unterwegs ist. Der König hat schon
zugestimmt." entgegnete ich "Morgen um diese Zeit werde ich es
der Garde erzählen. Sieh zu, daß du es bis dahin begriffen
hast, damit du mir nicht mit dummen Fragen in den Rücken fällst,
Kariv."
Kariv sah mich schweigend an und ging wortlos. Er war im wahrsten Sinne des
Wortes sprachlos ob dieser Ungeheuerlichkeiten.
"Wenn du mit jemanden darüber sprechen mußt, reite ins
Kloster und sprich seinen Bruder." riet ich ihm.
"Und? Warst du im Kloster?" fragte ich am nächsten Morgen.
"Ja."
"Was hat er dazu gesagt?"
"Du hast recht."
Ich schmunzelte.
"Aber was wird der König dazu sagen, daß du solche Befehle
gibst?"
"Er wird fürchterlich mit mir schimpfen, sie dann
zähneknirschend akzeptieren und am Schluß zugeben, daß
ich recht habe." antwortete ich.
Geron war in seinem Arbeitszimmer, das nur von einem Vorraum aus Zugang
hatte. Das Fenster lag hoch über den Boden. Im Vorraum war die gesamte
Garde versammelt, sowohl Reges, der längst zu alt zum Wacheschieben
war, als auch unsere Invaliden und selbst der jüngste Kadett, der
gestern aufgenommen worden war, waren dabei. Ich rief Haril und Kainer nach
vorn und bat sie, zu erzählen, was an dem Tag geschehen war, an dem
ich meinen Arm verloren hatte. Sie gehorchten, fragten sich aber
offensichtlich, was das sollte, denn es war allgemein bekannt, was
geschehen war.
"Damit es jeder, der in diesem Raum ist, weiß: das war falsch,
was ihr beiden an da getan habt." sagte ich, als sie fertig waren.
"Aber was hätten wir denn sonst tun sollen?" fragte Kainer.
"Es war aber mein Fehler, denn ich hätte euch vorher sagen sollen,
was ihr tun sollt, wenn er euch wegschicken will. Also werdet ihr dieses
eine mal noch nicht bestraft." ich lächelte ironisch "Ich
habe noch einen Fehler gemacht. Ich hätte ihm nicht alleine folgen
dürfen, sondern zehn Gardisten mitnehmen müssen. Aber ich habe
meine Strafe schon. Also können wir jetzt wohl über die Zukunft
reden."
Bei diesen Worten wanderte jeder Blick im Raum auf meinem Armstumpf.
"Leute, wenn ich damals meinem König gehorcht hätte,
wäre er jetzt tot. Und wir sind die Garde. Unsere Aufgabe ist es
nicht, ihm Gesellschaft zu leisten, wenn er gerade mal Lust auf unsere
Gesellschaft hat. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, ihm mit prompten
Gehorsam eine Freude zu bereiten. Unsere Aufgabe ist, es, unseren
König zu beschützen. Und wenn das menschenmöglich ist,
werden wir das auch tun. Von jetzt ab geht der König absolut
nirgendwohin, ohne mindestens zehn Mann der Garde dabeizuhaben. Und der
einzige, der aus welchem Grund auch immer eine Ausnahme befehlen darf, bin
ich."
"Auch nicht aufs Klo?" fragte jemand frech dazwischen.
Ich sah ihn an:
"Wieviele Türen hat ein Klo?"
"Eine."
"Kann sich da jemand drin verstecken?"
"Nicht wenn man vorher schaut, ob besetzt ist."
"Dann stell keine so dummen Fragen, sondern benutz deinen gesunden
Menschenverstand. Abgesehen davon möchte ich wirklich gerne einmal
ein Klo sehen, in dem zehn Gardisten und ein König sind. Ihr
dürft es also ausprobieren." antwortete ich.
Die Männer lachten, aber es war ein vorsichtiges Lachen. Sie
erwarteten wohl jeden Augenblick den endgültigen Durchbruch des
Wahnsinns.
"Wenn irgendjemand unter euch den König alleine irgendwohin gehen
läßt, dann ist er kein Gardist mehr. Und ich werde dafür
sorgen, daß er ohne Bezüge fristlos aus der Garde entlassen
wird. Habt ihr mich verstanden?" fragte ich.
Ein beklommenes Nicken war die Antwort.
"Reges. Hast du mich verstanden?"
"Ja."
"Hast du noch irgendwelche Fragen, die geklärt werden
müssen?"
"Ja. Was sollen die Männer tun, wenn er sie deshalb
entläßt?"
"Dann bestellen sie ihm einen schönen Gruß von mir und sagen
ihm, er soll an sein Versprechen denken. Ich werde dafür sorgen,
daß er nicht entlassen wird." erklärte ich.
"Was für ein Versprechen?"
"Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, daß er nie wieder
alleine irgendwohin geht, ohne das vorher mit mir abzusprechen."
"Und wenn er einfach geht?"
"Notfalls kettet ihr ihn an."
"Und wenn er anfängt zu toben?"
"Dann haltet ihr in fest und einer holt mich zu Hilfe - egal was ich
gerade mache - und ich rede mit ihm."
"Aber was sagt der König dazu?"
"Wenn ihr ihm den Befehl verweigert, wird er wütend sein. Jeder
Mensch hat mal seine verrückten fünf Minunten. Oder kann
irgendjemand von sich behaupten, nie unvernünftig gehandelt zu
haben?" fragte ich.
Die Männer schüttelten mit dem Kopf.
"Aber den Rest der Zeit wird er zugeben, daß die Möglichkeit
sich in diesen verrückten fünf Minuten hemmungslos austoben zu
dürfen, es nicht wert ist, daß man dafür sterben
muß." erklärte ich.
"Wie Jarem." sagte jemand.
"Wie Jarem." bestätigte ich.
Der Reihe nach, fragte ich jeden der Männer ob sie mich verstanden
hätten und ob da noch Fragen wären.
"Dorim, hast du mich verstanden?" fragte ich schließlich den
jüngsten der Kadetten.
"Ja." antwortete er.
"Hast du noch Fragen?"
"Aber jetzt ist er doch auch allein."
"Das Arbeitszimmer ist fast wie ein Klo. Es hat nur eine Tür
und das Fenster liegt weit über dem Boden. Und ich habe vorher
in jeden Schrank geschaut, ob sich da jemand versteckt."
"Echt? Aber so etwas macht doch niemand!" meinte er erstaunt.
"Normalerweise entgeht auch niemand innerhalb eines halben Jahres
zwei mal so knapp einem Mordanschlag, Junge." antwortete ich.
"Ja. Stimmt."
"So. Für heute dürfte alles geklärt sein. Sollten in
den folgenden Tagen irgendwelche Unklarheiten auftauchen, könnt
ihr euch jederzeit mit euren Fragen an mich wenden. Abgesehen von der
Wache könnt ihr jetzt gehen." sagte ich.
Als die Männer sich nach und nach zum Gehen wandten öffnete
sich die Tür. Geron gab mir durch einen Wink zu verstehen,
daß ich hereinkommen sollte. Sein Gesicht war absolut
ausdruckslos. Ich gehorchte.
Als er die Tür hinter mir geschlossen hatte, sprach er so leise,
daß es von draußen nicht zu hören war, selbst wenn
jemand lauschen sollte:
"Du wußtest ganz genau, daß ich diesen Befehlen nie
zustimmen würde."
"Ja. Und ich werde sie durchsetzen. Es sei denn, du
entläßt mich aus deinen Diensten. Denn einem Mann, der es
zuläßt, daß du dich ohne Garde in Gefahr begibst,
werde ich einfach nicht zum Dienst einteilen." erklärte ich
ebenso leise.
"Du bist unmöglich. Du bist absolut unmöglich."
meinte er.
Aber im Grunde hatte er sich schon längst mit den neuen Befehlen
abgefunden, sonst hätte er nicht so leise gesprochen.
"Du wolltest doch einen Mann, der dich mit einer Tracht Prügel
ins Bett steckt, wenn du Dummheiten machst." sagte ich.
"Ja. Einen. Aber gleich fünfzig?" fragte er zurück.
"Ich kann nicht überall sein." erklärte ich.
"Und du wirst diese Befehle bestätigen." stellte nach
einer längeren Pause fest, in der mein König nur wortlos
da gesessen und fassungslos den Kopf geschüttelt hatte.
"Nur wenn mein Bruder ihnen zustimmt." entgegnete er.
"Das hat er schon." antwortete ich.
"Hat er sich das etwa augedacht?" fragte Geron empört.
Er war schon witzig. Ich durfte ihm mit solchen Unverschämtheiten
kommen, aber wenns der eigene Bruder war, explodierte er.
"Nein. Ich habe es Kariv gestern schon erzählt, damit er mir
heute nicht mit dummen Fragen in den Rücken fällt und ich
habe ihm gesagt, wenn er unbedingt mit jemandem darüber reden
will, soll er deinen Bruder fragen."
"Und es war nicht abgesprochen?"
"Nein. Von ihm stammte doch die Idee mit der Tracht
Prügel."
Der junge König stand da, sagte lange nichts sondern
schüttelte wieder nur in regelmäßigen Abständen
den Kopf. Er konnte es einfach nicht fassen. Schließlich sagte er:
"Korith, ich habe einen Verrückten zu meinem Hauptmann
gemacht."
Ich lächelte:
"Tja. Und jetzt mußt du die Folgen dieses schweren Fehlers
tragen." dann wechselte ich zu einem absolut ernsten Tonfall
"An eines mußt du denken. Du darfst niemanden, absolut
niemanden fragen, ob du heute richtig gehört hast. Wenn du
unbedingt mit jemanden darüber sprechen mußt, dann sprich
mit mir oder deinem Bruder."
"Der steckt doch mit dir unter einer Decke." meinte Geron, doch
sein Grinsen zeigte, daß das ein Scherz war.
"Ja. Du kannst mich natürlich auch aus deinen Diensten
entlassen. Unmöglich genug benommen habe ich mich zweifellos.
Und ich werde es nicht zurücknehmen." antwortete ich.
"Sag mal, wie konntest du nur sagen, daß das mit dem Arm ein
Strafe war. Du hast mir das Leben gerettet. Du hast keine Strafe
verdient."
"Das war ein Scherz, Geron. Aber ich glaube, die Männer haben
es auch nicht gemerkt." antwortete ich.
"Wie kannst du über so etwas Scherze machen?" fragte er.
"Ich kann über absolut alles Scherze machen." antwortete
ich.
"Aber du bleibst doch du selbst, oder?"
Er dachte an meinen Bruder.
"Ja. Ich bleibe ich selbst. Ich gehe jetzt ins Bett, denn ich bin
eingentlich immer noch zu krank für solche Dinge." teilte ich
ihm mit und legte mich schlafen.
In den folgenden Tagen hatte jeder einzelne Mann der Garde irgendwann einen akuten Anfall an Unglauben und fragte mich, ob es mir mit diesen verrückten Befehlen auch wirklich ernst sei. Man müßte dem König doch gehorchen. Und ich bestätigte, daß es mir damit ernst sei. Auch der König wurde regelmäßig gefragt, ob man diesen Befehlen auch wirklich gehorchen solle und er bestätigte es.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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