Reiten konnte ich auch nicht mehr - ein paar Meter im Schritt schon, aber nicht so, wie es nötig war, damit mein Pferd die Bewegung bekam, die es brauchte. Auch das wäre eine wirkungsvolle Methode, Selbstmord zu begehen. Und dazu war mir eigentlich noch nicht zumute. Jedenfalls meist nicht. Aber verkaufen würde ich das Pferd auch nicht. Dazu liebte ich es zu sehr.
Tatsächlich hatte ich zu diesem Pferd beinahe eine engere Beziehung als zu jedem Menschen. Im Grunde lassen sich Beziehungen zu Menschen nicht mit denen zu Tieren vergleichen. Mein Hengst bewunderte, ja vergötterte mich geradezu. Er wußte, daß ich um ein mehrfaches klüger war als jedes Pferd und hielt mich offensichtlich für nahezu unfehlbar. Dabei schien er meine Intelligenz irgendwie mit Körperkraft zu verwechseln und glaubte offensichtlich, daß Menschen sich nur deshalb immer gegen Pferde durchsetzten, weil sie auch körperlich stärker sind als Menschen. Er wußte, daß ich ihn liebte und im Extremfall sogar mein Leben für ihn gegeben hätte - nicht daß es viele Situationen gäbe, wo der Versuch dazu irgendeinen Sinn ergeben würde - und er erwiderte diese Liebe vermischt mit einer stürmischen Begeisterung. Tatsächlich aber lebte ich einfach mein Leben als Mensch und hatte ein absolut treues, zuverlässiges Reitpferd, das mich selbst in Situationen nicht im Stich lassen würde, in denen jedes andere Pferd durchgehen würde. Er stellte sein gesamtes Leben auf mich ein und war glücklich damit. Aber das war eben nur die Oberfläche. Mein Treue ging genauso tief.
Jetzt fragte ich mich, wie ich ihm weiterhin gerecht werden sollte, denn ich wußte, meine Ritte auf ihm waren ihm wichtig. Ich mochte ihn nicht an jemanden anders abgeben, weil die meisten Menschen viel zu hart und herzlos mit ihren Pferden umgingen. Wenn sollte er frei und wild leben können. Ich konnte ihn vielleicht striegeln - und das würde ich auch tun - aber mir fiel niemand ein, dem ich ihn zum Reiten anvertrauen würde. Und schon deshalb kam verkaufen nicht in Frage.
Kinder hatte ich mir gewünscht. Vielleicht wäre es möglich, eine Frau zu finden, die mit mir mein Leben teilen wollte - aber mit ihr schlafen und Kinder zeugen - auch das würde an meiner Verletzung scheitern. Das Schwert hatte meinen Penis abgeschnitten und daran wäre ich beinahe verblutet. Immerhin waren da die Kinder meines Bruders, die mich regelmäßig am Krankenbett besuchten und mir von den kleinen Kümmernissen ihres Lebens erzählten. Ich hörte ihnen gerne zu und stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Sie waren wirklich eine Freude, so gesund sie waren.
Liranna, die junge Frau meines Königs kam mich oft besuchen. Meist war ich zu schwach und müde, sie anzusprechen, aber ich spürte und genoß ihre Nähe. Sie hatte eine starke und ruhige Ausstrahlung, die mir das Gefühl vermittelte, ich würde selber dadurch stärker. So als würde ihre Kraft zu mir überfließen.
Erst Monate nach dem verhängnissvollen Ritt fühlte ich mich
stark genug für ein längeres Gespräch. Als sie wieder
einmal kam, öffnete ich meine Augen und lächelte ihr zu.
"Du bist wach?" fragte sie erfreut.
"Ich war oft wach, wenn du gekommen bist, um dich um mich zu
kümmern. Und ich habe mich jedesmal gefreut, deine Nähe
zu spüren. Du bist stärker als die anderen." sagte ich
ihr.
"Echt? Zuhause haben immer alle gesagt, ich bin
unmöglich."
"Das haben sie über mich auch gesagt, als ich ein Kind war. Aber
das sagen sie jetzt nicht mehr, denn als Königin bist du viel zu
beschäftigt, um noch Zeit für Unfug zu haben. Du wirst sehen,
später werden Lieder über dich gesungen, in denen du die
beste aller Königinnen bist." antwortete ich ihr.
Sie lachte und sagte dann:
"Du spinnst, Korith."
"Über mich singen sie doch auch Lieder, oder?" widersprach
ich.
"Ja. Aber woher weißt du das?"
"Ich war zu schwach, um während des Festes aufzustehen. Aber ich
habe es gehört. Und du bist mir charakterlich sehr ähnlich.
Genau die Eigenschaften, die dich zum unmöglichen Kind gemacht
haben, machen dich jetzt zu einer guten Königin." antwortete
ich.
"Meinst du?"
"Ja. Was als meine großen Leistungen als Gardehauptmann
besungen wird, sind alles Sachen, die ich trotz Verbot getan habe, wo
ich gegen bestehende Regeln verstoßen und alle damit geärgert
habe. Und jetzt im Nachhinein merken sie, daß es gut ist. Und du
wirst hoffentlich lange genug regieren, daß sie sich daran
gewöhnen, daß du vieles änderst und daß deine
Änderungen gut sind." antwortete ich.
"Korith, ich habe dein Pferd bewegt. Die anderen haben gesagt,
daß niemand außer dir ihn reiten kann und daß du es
auch ausdrücklich verboten hast, daß es jemand versucht. Bist
du mir böse?"
Ich sah sie überrascht an. Auf die Lösung des Pferdeproblems
war ich gar nicht gekommen, dabei wußte ich doch, daß sie ihr
Pferd genauso ausgebildet hatte wie ich meines.
"Nein. Ich würde mich freuen, wenn du ihn auch in Zukunft reiten
würdest, denn ich kann das ja jetzt nicht mehr." antwortete
ich.
"Sag nicht, daß du nicht mehr reiten kannst!" forderte
sie.
"Vielleicht ein paar Schritte im Schritt - aber nicht mehr so, wie er
es braucht, um glücklich zu sein." antwortete ich.
Sie widersprach nicht mehr, denn sie wußte,
daß es stimmte, auch wenn es ihr nicht gefiel.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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