FC12.

Die Psychologin

Mitten im Gespräch ertönte ein Klingelzeichen.
"Ihr verschwindet sofort in euren Zellen und schließt sie ab. Ich gehe an die Tür, und wenn ich die Psychologin schicke, merkt sie nicht, daß ihr hier frei herumgelaufen seid. Ist das klar?" befahl er.
Wir nickten und liefen los, während er sich langsam in Richtung Tür aufmachte. Als ich Daeraith als letzte einschloß, waren wir schließlich nur noch am Kichern, denn im Grunde war es ja geradezu albern, daß wir mit dem Gefängnisleiter gemeinsame Sache machten, um zu vertuschen, daß wir frei im Gefängnis herumliefen. Als ich mich schließlich selbst eingeschlossen hatte, dauerte es immer noch zehn Minuten, ehe eine Frau umständlich von außen aufschloß. Ich begrüßte sie höflich.
"Ich bin Erita Nain, Psychologin und werde die Bewohner dieser Anstalt betreuen. Du kannst mit all euren Sorgen zu mir kommen." stellte sie sich vor.
"Das ist gut. Auf die meisten ehemaligen Drachenreiter ist in der letzten Zeit dermaßen viel Schmerz übergeschlagen, daß ich mich nicht allein um sie werde kümmern können." antwortete ich freundlich, obwohl ich mir natürlich an fünf Fingern abzählen konnte, daß sie geschickt worden war, um uns zu überwachen, nicht um für uns zu sorgen.
Das allerdings würde kaum einen Unterschied machen. An den meisten Drachenreitern gab es einfach nichts zu überwachen. Wenn sie auch nur annähernd etwas taugte, würde sie bald so sehr damit beschäftigt sein, Männer aus ihrer Apathie zu reißen, daß sie einfach nicht mehr auf den Gedanken kommen würde, uns mit Mißtrauen zu begegnen.

"Außerdem habe ich noch eine Bitte. Ich würde euch gerne einem jungen Drachen vorstellen. Wenn ihr die Zeit dazu findet, würde es mich freuen, wenn ihr ihn kennenlernt und dann ein psychologisches Profil erstellt."
"Aber warum? Das macht man doch, um Menschen zu überwachen." fragte sie erstaunt.
"Einerseits habt ihr sowieso den Auftrag psychologische Profile zu erstellen - andererseits wird ein realistisches psychologisches Profil dem Drachen vermutlich das Leben retten. Drachen werden als viel gewalttätiger betrachtet, als sie sind."
"Drachen sind gewalttätig. Ich habe bis gestern zwei Mädchen betreut, die für eine Gegenüberstellung bereitgehalten wurden. Sie waren völlig verstört."
"Das war ich damals aber nicht. Du mußt bedenken, daß der Planet belagert wurde und jeder Drache wußte, daß ihm vermutlich in ein paar Tagen bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen würde. Von den etwa 7000 Drachen, die hier lebten, sind nur noch drei am Leben. Ein frisch geschlüpfter - er ist hier. Einer, der zwei Meter lang ist, im Zoo von Doraithe und ein Ei im Brutschrank dieses Zoos. Meines Wissens hat es in diesen Tagen zwar viele Drohungen und Wutanfälle gegeben, aber kein einziger Drachenreiter wurde verletzt. Es ist bedauerlich, daß die Mädchen mitten in diesen Hexenkessel hineingeraten sind. Sie wußten nicht, wie Drachen denken, und deshalb kann ich nur zu gut verstehen, wie viel Angst sie gehabt haben müssen, zumal ich in der Zeit auch nicht sehr ausgeglichen war und sie manchmal angebrüllt habe." antwortete ich.
"Und wir wissen immer noch nicht, was aus dem dritten Mädchen geworden ist..."
"Nicht? Sie ist hier und kümmert sich um den jungen Drachen. Wenn ihr mich hier herauslaßt, kann ich sie euch zeigen." erklärte ich.
Sie sah mich sehr merkwürdig an. Dann schloß sie die Tür wieder auf und folgte mir durch die Gänge des Gefängnisses. Schließlich schloß sie die Tür zum Gefängnishof auf, auf dem sich der junge Drache sonnte. Daeraith schaute auf und lächelte mir zu. Ich dachte ihr zu, daß die Frau neben mir Psychologin sei und Persönlichkeitsprofile von uns erstellen solle. Die Psychologin stellte sich ihr mit denselben Worten vor, mit denen sie sich auch mir vorgestellt hatte. Und Daeraith gab ihr dieselbe Antwort. Die Psychologin warf mir einen sehr merkwürdigen Blick zu. Ich lächelte ironisch, berührte den Geist des Drachen und bat ihn, mit der Psychologin geistig Kontakt aufzunehmen.

Dann beobachtete ich aufmerksam den Geist der Frau. Der Drache stellte mit der ihm angeborenen Leichtigkeit Kontakt her und übertrug ihr einen Gedankenkristall, der die Frau in absolute Verwirrung stürzte, weil er wie üblich viel zu kompliziert war.

Daeraith und ich lachten und erklärten ihr, daß es ganz normal sei, daß man einen Drachen nur versteht, wenn er alles extrem vereinfacht hat.

"Aber du sagtest doch, daß hier das dritte Mädchen sei?" meinte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte verwirrt.
"Ich bin das dritte Mädchen. Dania war mein Name, jetzt heiße ich Daeraith. Daera heißt mein Drache und ith heißt so etwas wie Haustier oder Sklave." erklärte Dhaeraith.
"Aber das kann doch gar nicht sein - die anderen waren doch so verstört!"
"Sie haben ja auch keinen Drachen." antworteten wir im Chor und brachen dann in Lachen aus, weil wir das nun wirklich nicht beabsichtigt hatten.
"Aber... wie ist das möglich?"
"Was macht einen guten Psychologen aus?" fragte ich zurück.
"Ein Psychologe muß jeden seiner Patienten so lieben und achten wie er ist."
"Ein Drache, wenn er schlüpft, sucht einen Menschen. Er sucht einen Menschen und nur einen Menschen und wenn er keinen Mensch findet ist er unglücklich. Findet er aber einen Menschen ist er absolut seelig. Der Mensch mag aussehen, wie er will, der Drache findet ihn schön. Ganz gleich wie sein Charakter ist, der Drache findet ihn liebenswert. Jeder Drachenreiter, den ich schon kannte, bevor er seinen Drachen bekam, hat sich nach der Gegenüberstellung zum Positiven entwickelt. Und was Angst vor Drachen angeht: Wenn man weiß wie Drachen denken - und das weiß jeder Drachenreiter - dann weiß man auch, daß sie niemals absichtlich einen Menschen verletzen würden. Und das ist bei ihrer Größe ein echtes Glück." erklärte ich.
"Während der Angriffe haben Drachen Menschen getötet."
"Ja. Weil es um ihr Leben ging. Aber all die Jahre davor habe ich dergleichen nicht erlebt. Selbst die Verteidigungsflotte des Planeten wurde von Menschen gebildet."

Die Psychologin schickte mich zurück in meine Zelle und ging los um sich die anderen anzusehen.

Kersti


FC13. Kersti: Fortsetzung: Alpträume
FC11. Kersti: Voriges: Erita
FCI. Kersti: Inhaltsübersicht: Damit Drachen leben können
FC1. Kersti: Zum Anfang: Trgerische Ruhe
Thema: Drachen

V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben

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