FC23.

Tag des Todes

Der Psychologieprofessor betrat den Raum, in dem die operierten Entbehrlichen gelagert wurden, bis weitere Teile von ihnen angefordert wurden. Er betrachtete die vielen medizinischen Apparate und ging zielstrebig zu dem Bett mit der Nummer des Drachenreiters. Als er davor stehenblieb und den schrecklich verstümmelten Körper darin sah, fürchtete er, vergeblich gekommen zu sein. Das konnte niemand verkraftet haben, ohne innerlich daran zerbrochen zu sein.

Der Drachenreiter hatte nur noch einen Arm und keine Beine mehr. Eine Anfrage an den Computer des Lebenserhaltungssystems zeigte, daß ihm auch die meisten inneren Organe fehlten, sowie eine ganze Reihe Nervenstränge, einzelne Muskeln und Teile des Gesichts.

Dann jedoch öffnete der Drachenreiter das Auge und darin lag dieselbe Ruhe, wie bei der ersten Begegnung. Er musterte sekundenlang den Besucher und lächelte dann mit der einen noch gesunden Hälfte seines Mundes, als wäre ihm irgendein Witz eingefallen.
"Was führt dich hierher Professor? Mit deinem Besuch hätte ich wirklich nicht gerechnet." fragte er.
"Ich habe deine Texte im Netz gelesen. Sie sind gut - aber im Gegensatz zu dem, was du für mich geschrieben hast, nicht wissenschaftlich korrekt, sondern eine Geschichte für das einfache Volk. Wer hat dir einen Computer zur Verfügung gestellt, damit du das schreiben konntest und wer hat es ins Internet gesetzt?"
"Eine Ärztin mit der ich mich öfters unterhalten habe. Wie geht es den jungen Drachenreitern?" antwortete der Drachenreiter.
"Gut. Ich bin gerade damit beschäftigt, alles dafür vorzubereiten, daß sie bald mit ihren Drachen Flugschneisen zugewiesen bekommen. Die inoffizielle Zustimmung der meisten wichtigen Leute habe ich schon, so daß ich bald den offiziellen Antrag auf Flugerlaubnis stellen kann. Die Drachen meinen, bald wird auch das Ei schlüpfen. Deshalb habe ich inzischen ein paar Mädchen gefunden, die sich meiner Ansicht nach als Reiter eignen würden. Was wirst du als nächstes schreiben?"
"Nichts, Professor. Ich habe gerade erfahren, daß ich in anderthalb Stunden das nächste mal operiert werde und daß ich diese Operation nicht überleben werde. Die Ärztin läd gerade die letzten Änderungen hoch." antwortete der Drachenreiter.
"Aber... wie kannst du dabei so ruhig sein?"
"Im Grunde bin ich froh, daß es bald vorbei ist. Ich habe die letzten Monate soviel Leid und Schmerz erlebt, daß ich mir immer wieder den Tod herbeigesehnt habe. Und mit jedem Tag, den ich noch gelebt habe, konnte ich weniger tun. Die letzten Tage habe ich täglich nur noch wenige Minuten schreiben können."
"Ich werde mich um die Drachen kümmern." sagte der Professor.
"Danke."
Mit diesem Wort schlief der Drachenreiter ein. Das kurze Gespräch mußte ihn sehr erschöpft haben.

Der Professor dachte an die Worte, die die Psychologin immer wieder gesagt hatte:
"Ich begreife nicht, wie er ein solches Schicksal tragen kann, als wäre da nichts."
Langsam fragte er sich dasselbe. Wie schaffte es der Drachenreiter, so ruhig und gelassen über seinen Tod zu reden, der unmittelbar bevorstand - und der, wie er aus Erfahrung wissen mußte, eine fürchterliche Quälerei sein würde? Eine der grausamsten Foltern, die es gibt.

Im Operationsraum wurde ich wieder geweckt, um sicherzustellen, daß ich in meinem Körper war, dann erst stellten sie den Lähmstrahler an. Sie begannen, indem sie meine Hand aufschnitten, um dort ein paar bestimmte Knochen herauszuholen und sie einem anderen einzupflanzen. Danach holten sie einige Muskeln aus dem Arm und einzelne Nervenfasern. Ich fragte mich, wie das funktionieren konnte, da die Zellkerne ja nicht in den Nervenfasern liegen, doch es scheint, daß sie im Menschenreich dafür eine Lösung gefunden hatten, die bei den Drachen nicht bekannt war. Zum Schluß nahmen sie Haut und Knochen und gaben sie fort. Danach wurde der Arm am Ansatz zugeheilt, so daß ich durch seine Schlagadern kein Blut mehr verlieren konnte. Dann schnitten sie Milz und Leber heraus und gaben sie fort und trennten auch die Rippen auf, so daß sie die Lunge herausholen und zur Verpflanzung in einen anderen Körper fortgeben konnten. Dann waren auch dort Haut und Knochen dran - mehr war ja von meinem Oberkörper sowieso nicht übrig gewesen. Dann gingen sie an den Kopf, schnitten das übrige Ohr und Auge heraus und schließlich öffneten sie den Schädel, holten das Gehirn heraus und reichten es durch ein Fenster in einen anderen Raum. Ich fragte mich, was sie mit einem Gehirn ohne Seele wollten - denn ich konnte meinem Gehirn ja nicht in den Körper folgen, in den es eingepflanzt werden würden, genausowenig wie mein lebenserhaltendes Energiefeld, das manchmal auch als feinstofflicher Körper bezeichnet wurde. Sie stellen den Lähmstrahler mit dem eingebauten Fallenenergiefeld, das mich auf der Liege gefangenhielt immer noch nicht aus, ließen ihn noch weitere zehn Stunden in Betrieb, so daß ich, obwohl nichts von meinem Körper mehr auf der Liege war, sie dennoch nicht verlassen konnte - und zu allem Überfluß hatte ich auch noch Schmerzen - so als hätte ich einen ganzen, vollständigen Körper der nur aus brennendem Feuer bestand. Erst nach Tagen, die mir aber eher wie Jahre erschienen waren, stellen sie es aus. Noch weitere zehn Stunden war ich zu benommen durch den ständigen Schmerz, um fliehen zu können.

Zuerst war ich einige Stunden lang nur froh, endlich keine Schmerzen mehr haben zu müssen. Dann dachte ich an Daera, Daeraith, Katira und Katiraith und schaute nach ihnen. Sie waren nicht da. Die Psychologin war telepathisch nicht geübt genug, um mit Toten zu sprechen, also suchte ich die Drachen telepathisch und ich fand sie hintereinander hoch über der Stadt schwebend. Sie hatten ihre Reiter und zwei Fluggäste auf dem Rücken und bemerkten meine Anwesenheit sofort ich gab ihnen einen kurzen telepatischen Bericht der letzten Tage und auch sie informierten mich, was bei ihnen in der letzten Zeit geschehen war - und es sah gut aus. Ich hätte nicht gedacht, daß es mir gelingen würde, daß die Drachen nicht nur am Leben bleiben, sondern auch noch fliegen durften. Jetzt fehlte nur noch ein Nebenverdienst für die Reiter, bei dem sie sich die immense Intelligenz ihrer Drachen zunutze machen konnten. Dafür würden sie vielleicht noch selber sorgen können.

Der Professor schaute nachdenklich auf seine jahrzehntelange Arbeit mit den Drachen und ihren Reitern zurück. Die Regierung war angetan davon, wie gut sich diese riesigen Wesen als Touristenattraktion für Sonntagsausflüge vermarkten ließen. Und die Drachenreiter hatten sich alle längst mit Hilfe irgendwelcher hochspezialisierter Computerarbeit freigekauft - wobei der Professor überzeugt war, daß die Drachen ihnen dabei halfen. Er hatte kurz nach dem Tod des Friedenshüter-Drachenreiters beschlossen, ihnen eine Datenschnittstelle für Computerarbeit ins Gehirn legen zu lassen, um so die Intelligenz der Drachen auf dem Umweg über ihre Reiter optimal ausnutzen zu können. Das hatte sich sehr bewährt. Wie gesagt, die Regierung war sehr zufrieden mit der Arbeit des Professors. Der Professor allerdings, jetzt wenn er über sich selbst nachdachte, fragte sich, warum es ihm so wichtig war zu wissen, daß dieser Friedenshüter seine Arbeit gutgeheißen hätte - viel wichtiger als die Zustimmung der Regierung oder das Geld, was er für seine Forschungsergebnisse und seine Erfolge bekam.

Er hatte sich nie für andere Menschen interessiert - und schon gar nicht für diese ach so idealistischen Friedenshüter - und jetzt tat er nicht nur, was ein Friedenshüter ihm gesagt hatte - ohne jeden Zwang - sondern er hatte angefangen zu wollen, daß es anderen Menschen gutgeht. Mein Gott, wenn ihm das jemand vorher erzählt hätte, dann hätte er den ausgelacht!

Kersti


FC22. Kersti: Voriges: Zentralkrankenhaus
FCI. Kersti: Inhaltsübersicht: Damit Drachen leben können
FC1. Kersti: Zum Anfang: Trügerische Ruhe
Thema: Drachen

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