"Was werdet ihr mit mir tun?"
"Nichts. Nur eine Untersuchung."
Das wurde häufig erzählt. Daraus, daß Frauen immer
erzählt wurde, daß sie nur ein Baby gemacht bekamen,
während Männern dieser Satz gesagt wurde, schloß ich,
daß es eine beruhigende Lüge sein sollte. Aber ich wußte
nicht, was "Nur eine Untersuchung" eigentlich heißt.
Einer der Ärzte berührte mich mit der Hand und sagte leise:
"Armer Junge."
Ich sah ihn an, prägte mir sein Gesicht und seine Stimme ein. Er war
der einzige, der etwas Freundliches gesagt hatte. Ihn wollte ich
kennenlernen.
"Bitte sag mir, was ihr tun wollt." bestand ich auf meiner
Bitte.
"Du kannst doch sowieso nichts tun." sagte er leise.
"Ich weiß. Aber ich will es wissen." antwortete ich.
Doch er stellte einfach den Strahler ein und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich beobachtete, wie die Leute ihre Instrumente in die Hand nahmen und mein Gesicht mit einer Salbe einschmierten. Also war es etwas am Gesicht. Vor meinem inneren Auge liefen so häßliche Scenen ab, was sie alles tun könnten, Scenen, von denen viele so abartig waren, daß ich im wirklichen Leben noch nie davon gehört hatte. Aber sie waren immer in meinen Kopf gewesen, wenn ich über meine Zukunft nachdachte.
Sie zogen mit einer kleinen Zange meine Augenlieder auseinander und holten mit einer Art Löffel meine Augäpfel aus der Augenhöhle, ohne sie zu verletzen. Es tat schrecklich weh. Aber ich konnte keinen Muskel rühren, um mich zu wehren. Danach schnitten sie die Knochen an den Schläfen weg, um so von der Seite in die Augenhöhlen zu kommen und griffen mit etwas langen in den Kanal, in dem die Nervenfasern ins Gehirn führten. Tief im Kopf schnitten sie es ab. Danach taten sie dasselbe auf der anderen Seite und schließlich spritzten sie ein Heilgel in die leeren Augenhöhlen und klebten die Haut darüber zusammen. Was sie mit den Augen dann gemacht haben, weiß ich nicht. Danach stellten sie den Strahler aus und schnallten mich los. Ich richtete mich auf und schlug dann schweigend die Hände vor die leeren, schmerzenden Augenhöhlen. Während mein Körper und meine Gefühle von Schmerz überwältigt waren und leise wimmerten, gab es einen Teil von mir, der die ganze Angelegenheit ruhig aus einigem Abstand betrachtete, der nicht verletzt war.
Dieser Teil, mein eigentliches ich, wußte, daß ich jetzt
menschliche Wärme brauchte und wollte sie mir beschaffen. Ich stand
auf, drehte mich zu demjenigen um, der gesagt hatte "armer Junge"
und bat leise:
"Kores - Bitte, nimm mich in die Arme."
Er zog mich in die Arme und streichelte mich, während ich mich nur
schweigend gegen ihn lehnte und versuchte irgendwie mit den Schmerzen und
der Aussicht, für den Rest meines Lebens blind zu sein,
fertigzuwerden. Ich war viel zu angespannt, um zu weinen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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