Er führte mich wortlos aus dem Operationssaal. Erst als wir alleine
waren, fragte er mich:
"Willst du denn zurück?"
"Würdest du mich denn woandershin bringen, wenn ich darum
bitte?" fragte ich zurück.
"Nein. Willst du woandershin?" antwortete er.
"Ja. Ich habe gesehen, daß die Leute von draußen alle noch
ganz sind, daß ihnen nichts fehlt. Und ich will wohin, wo mir
niemand etwas abschneidet." erklärte ich.
"Da wirst du nie hinkommen." antwortete er.
"Ich weiß. Aber das ist, was ich will. Was würde denn
passieren, wenn du versuchen würdest, mich woandershin zu
bringen?" antwortete ich.
"Es würde mir nicht gelingen. Es gibt so viele
Sicherheitsmaßnahmen. Einige Ärzte haben das schon versucht.
Es ist seit hunderten von Jahren niemandem gelungen." erklärte
er.
"Das dachte ich mir. Was sind das denn für Sicherheitsmaßnahmen?" antwortete ich.
Während wir redeten gelangten wir in der Schleuse an. Ich fragte ihn, ob er mit in die Kantine kommen würde, wo wir immer unser essen bekommen. Er als Arzt könne sich dort ja das Essen bestellen, was er gewohnt sei.
Die Essensausgabe wurde von dunkelhäutigen Mädchen bedient, die viel kleiner und zierlicher waren als wir und die Ärzte. Ich hatte einmal als kleiner Junge versucht durch das Fenster zur Essensausgabe zu kriechen - doch es war ein Alarm losgegangen und sie hatten mich bestraft und zurück und unseren Lebensraum gebracht.
Leider wußten die kleinen Mädchen auch nicht viel mehr als wir, außer daß sie nach ein paar Monaten Arbeit dort in die Versuchslabore kamen - was immer das auch sein mochte - und häßliche Gerüchte darüber im Umlauf waren, die ihnen panische Angst einjagten. So wie ich die Welt kannte, hielt ich die Angst für gerechtfertigt.
Die Mädchen in der Kantine erkannten ihn als Arzt - das war ganz einfach, denn er hatte Kleidung an und wir alle nicht. Und überschlugen sich beinahe vor Diensteifrigkeit. In Wirklichkeit aber hatten sie Angst vor den Ärzten.
Er bekam einen Kaffee - ein Getränk was sehr gut roch - aber mir scheußlich schmeckte, als er mich mal probieren ließ. Ich fragte ihn, warum er das Zeug trank und er erklärte mir, daß er das täte, weil es gut schmeckte. Ich fragte mich, wie er zu der Geschmacksverwirrungen gekommen war. Abgesehen davon, daß wir es ja deshalb nicht trinken durften, weil es nicht gesund war. Und gegen Regeln, die meiner Gesundheit dienten, hatte ich nichts einzuwenden.
Die nächsten Stunden war ich voll auf unser Gespräch konzentriert.
Es war schwierig, ihm zu erklären, warum wir so reagierten, wie wir reagierten - und doch war es wichtig, um sein Interesse wachzuhalten und damit er bei der Sache blieb. Und schließlich wollte ich von ihm ja auch, daß er mir so einiges erklärte.
Seine Erklärungen waren im höchsten Maße verwirrend, weil ich für die Hälfte der von ihm benutzen Wörter selbst nach einer ausführlichen Erklärung von ihm noch nicht einmal andeutungsweise erahnen konnte, was sie bedeuteten.
Was beispielsweise war ein Haus? Er hatte erklärt, daß ein Haus
aus mehreren Zimmern besteht -
"Gut aber ALLES besteht doch aus Zimmern" hatte ich gesagt.
"Ja. Euer Lebensraum ist ja in einem Haus."
"Und - gibt es auch Plätze, wo keine Zimmer sind?" fragte
ich.
"Ja. Außerhalb von Häusern gibt es keine Zimmer."
"Und wie sieht das aus, wenn da kein Zimmer ist?" fragte ich.
Seine weiteren Erklärungen stürzten mich in absolute Verwirrung,
weil in ihnen überhaupt nichts vorkam, was es auch in Wirklichkeit
gibt. Jedenfalls in der Wirklichkeit, die ich kannte. Aber ich gab nicht
auf. Ich wollte verstehen und ich würde nicht eher
ruhen, als bis ich es verstanden hatte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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