FD4.

Arzt Kores

Der Arzt Kores war an diesem Tag neu in die Abteilung für Organtransplation gekommen. Er hätte sich diese Stelle nicht ausgesucht - sie war ihm zugwiesen worden. So war er der jüngste Assistent bei der Operation und wurde geschickt, um die Reserve abzuholen.

Als er in die Zugangsschleuse des Lebensraumes der Reserve trat, wartete die Reserve schon auf ihn. Zuerst fiel dem Arzt nur auf, daß der junge Mann völlig nackt war. Und es schockierte ihn, das zu sehen. Dabei hatte er theoretisch natürlich gewußt, daß Reserven keine Kleidung zugewiesen bekommen, weil das nur unnötige Umstände macht.

Dann erst fiel ihm auf, was für ein schönes, symphatisches Gesicht der Junge hatte. Dieser aufmerksame und wache Blick. Der Junge folgte ihm ruhig und gehorsam. Er wirkte, als wüßte er nicht, was auf ihn zukam.

Das allerdings stellte sich als Irrtum heraus. Auf dem Weg zum Operationssaal fragte er ganz ruhig:
"Weißt du, was sie mir abschneiden werden?"
Kores war viel zu schockiert von der Beiläufigkeit, mit der diese Frage gestellt wurde, als daß er hätte antworten können. Er sah den Jungen an, den er zur Organspende brachte - dieses hübsche, freundliche Gesicht - und hätte weinen mögen.

Er hatte auch kurz mit dem Mann gesprochen, der diese schönen braunen Augen bekommen würde. Es war ein unsympathischer Mensch, durch ein ungesundes Leben dick geworden und obgleich das Gesicht beinahe genauso aussah, war es doch nicht hübsch sondern durch Pickel entstellt und durch eine zwischen Gemeinheit und vollkommener Gleichgültigkeit wechselnden Miene zu etwas geworden, was niemand gerne anschaut. Auf den jungen Arzt hatte er mit Verachtung herabgeschaut und die Sklavinnen, die ihn bedienten, gemein behandelt.

Nein. Dieser Junge hatte es nicht verdient, daß man ihm für dieses unsympathische Arschloch die Augen wegnahm.

Und doch kam er ganz brav mit, legte sich gehorsam auf die Behandlungsliege und ließ es zu, daß man den Lähmstrahler anstellte. Danach war sein Gesicht so leer ausdruckslos, wie es unter der Wirkung eines Lähmstrahlers immer ist.

Nach der Operation verließen die anderen Ärzte den Raum. Kores aber würde den Jungen noch zurückbringen müssen.

Als er den Lähmstrahler ausstellte, verkrampfte sich das Gesicht kurz vor Schmerz. Dann wurde die Miene wieder ruhig - aber nicht ausdruckslos sondern beherrscht. Es lag eine große Stärke darin. Der Junge setzte sich beinahe sofort auf und schlug die Hände vor die leeren Augenhöhlen. Dann hob er das Gesicht mit den beiden häßlichen Löchern wo einmal die Augen gewesen waren und fragte:
"Nimmst du mich in den Arm?"
Kores wußte nicht, was er erwartet hätte - aber ganz bestimmt nicht diese Bitte um Zuwendung. Vielleicht Ärger oder ein Weinen. Aber nicht eine so ruhige Frage. Er nahm den Jungen in den Arm und hatte das Gefühl, daß der Welt etwas wichtiges verloren ging, wenn dieser innerlich so starke Mensch als Organspender ausgeschlachtet würde.

Der Junge lehnte sich eine ganze Weile einfach nur schweigend an den Arzt. Dann irgendwann stand er auf und seine Haltung drückte Ruhe und Entschlossenheit aus und fragte:
"Bringst du mich zurück?"
Das "du" war so deutlich betont, daß klar war, daß er Wert darauf legte, von Kores und keinem anderen begleitet zu werden.

Die nächste Überraschung kam in der Schleuse. Torey fragte, ob Kores ihm noch ein paar Fragen beantworten könne. Er mußte heftige Schmerzen haben. Wie kam er gerade jetzt auf den Gedanken einen völlig Fremden ausfragen zu wollen? Kores hatte Zeit und er war neugierig. Also ging er mit und trank in der Kantine einen Kaffee. Eigentlich hätte er den Jungen nicht probieren lassen dürfen - so etwas ungesundes durften sie nicht zu sich nehmen - allerdings konnte Kores sich auch nicht vorstellen, wie es möglich sein sollte, daß ein Schluck Kaffee irgendeinen merklichen Schaden anrichtet.

Der Junge war unglaublich unwissend. Und doch zeigte die Art wie er Fragen stellte, daß er intelligent war, genau beobachtete und in seinem Leben viel nachgedacht hatte. Und seine Schlußfolgerungen waren, wenn man bedachte, wie wenig er über die Welt wußte, erstaunlich zutreffend. Er kam mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit bei der Wahrheit an.

Als er am Ende bat, daß Kores ihn noch öfter besuchen sollte, versprach Kores ihm das gerne. Ihm war selten ein so interessanter Mensch begegnet.

Kersti


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Thema: Atlantis

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