FD5.

Alltag

Als er Abends ging und ich mich in den Schlafsälen schlafen legte, kam mir das ganze Elend wieder zu Bewußtsein und ich weinte mich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, spürte ich, wie mich jemand streichelte. Ich wollte die Augen aufmachen und ihn anschauen, doch es ging nicht. Dann ergriff ich die streichelnde Hand und als ich bemerkte, daß ein Finger fehlte, wußte ich, wer es war.
"Odin?" sagte ich und setzte mich auf.

Er war einer der Führer unseres Fürsorgekreises. Es ist so, daß die Ärzte sich nicht interessieren, wie wir uns fühlen und auch niemand sonst. Das einzige, was sie interessiert ist, daß wir unseren Körper gesunderhalten, von dem sie immer wieder Teile abschneiden. Wenn wir uns nicht genug bewegen werden wir bestraft, wenn wir nicht genug essen, werden wir bestraft. Aber ob wir glücklich oder totunglücklich sind, interessiert niemanden von ihnen. Und es interessiert sie beispielsweise auch nicht, ob jemand richtig essen kann oder weil er keine Arme mehr hat, die Schüssel auslecken muß. Nur wer absolut nicht mehr selbständig essen kann - beispielsweise, weil ihm der Darm herausgenommen wurde wie Jedith - kommt an den Tropf.

Deshalb haben wir beschlossen, daß wir uns um all die kümmern wollten, die traurig waren oder Hilfe brauchten.

Ich stand auf und fragte Odin:
"Kannst du mich zu Darith begleiten?"
Ich spürte, wie erstaunt er war.
"Aber ich dachte, du würdest erst einmal traurig sein und nichts tun wollen und über die Ärzte schimpfen."
"Und - was würde das bringen?" fragte ich zurück.
"Alle tun das."
"Heiße ich alle?" fragte ich bissig.

Dann ging ich alleine los. Der Lebensraum war nicht sehr groß - und allein, weil ich nicht bereit war, auch nur für einen Augenblick zu glauben, daß ich es nicht finden könnte, fand ich es auch sofort. Schließlich wußte ich ja, wie groß jeder Raum war. Es gab andere Blinde hier und die meisten waren, nachdem man ihnen die Augen herausgeschnitten hatte, erst einmal lange Zeit orietierungslos gewesen. Und dann plötzlich hatten sie begriffen, daß sie eigentlich jeden Raum kannten und jederzeit finden konnten. Ich hatte daraus geschlossen, daß man eigentlich überhaupt nicht orientierungslos sein muß, daß man nur darauf vertrauen muß, daß man sich auskennt und dann findet man auch alles.

Im Raum der Bewegungsunfähigen blieb ich stehen und fragte laut in den Raum:
"Darith?"
Als er mir antwortete richtete ich mich nach seiner Stimme und ging direkt zu seinem Bett. Die anderen hätten es sicher nicht sehr freundlich gefunden, wenn ich zuerst drei oder vier Gesichter abgetastet hätte, ehe ich den fand, den ich suchte. Und bei der Größe des Raumes wäre mir das sicher passiert. Ich war bisher bei den meisten Türen ein Stückchen daneben gelandet und erst nachden ich ein paar Meter Wand abgetastet hatte, hatte ich sie gefunden.

Ich setzte mich auf die Bettkante, nachdem ich mich versichert hatte, daß er nicht gerade dort lag und begrüßte ihn.
"Ich dachte du kommst nicht. Sie haben gesagt, daß sie dir die Augen herausgeschnitten haben." sagte Darith.
"Das stimmt. Aber du wartest doch auf mich. Da kann ich dich doch nicht alleine lassen." sagte ich.
"Dunis hat es aber getan, als sie ihm ein Bein abgeschnitten haben." sagte Darith.
"Bin ich Dunis?" fragte ich.
"Ich kann ihn verstehen. Ich habe ja auch nur noch an mich gedacht, als sie mir das halbe Gesicht mit dem einen Auge abgeschnitten haben und meinen rechten Arm und das Bein." sagte er.
"Ich kann ihn auch verstehen, aber es wäre einfach dumm, wenn ich jetzt an die Augen denken würde - dann würde ich erst richtig merken, wie sehr das weh tut. Gestern Abend beim Einschlafen hatte ich nichts anderes zu denken, das war einfach schrecklich. Das brauche ich nicht den ganzen Tag. Also habe ich mir gesagt, daß ich tue, was ich bisher getan habe - und irgendwie wird es dann gehen." erklärte ich.

Dunis hatte sich inzwischen Gott sei Dank wieder gefangen und kümmerte sich wieder um diejenigen, die schlechter dran waren als er. Immerhin war er mit dem einen Bein noch wesentlich besser dran als die meisten. Wir hatten ihn zu Teja geschickt, die zwei Betten weiter hier liegt - Teja ist schon seit über zehn Jahren bettlägerig. Doch wenn wir jemanden haben, der nicht weiß wohin mit seiner Verzweiflung, schicken wir ihn mit irgendeinem kleinen Auftrag zu Teja - und Teja bringt ihn dazu das Leben zu lieben. Na ja - zu manchen muß man auch hingehen, weil sie selber bettlägerig sind und um die kümmern sich dann andere. Aber Teja ist gut. Sie hat immer gute Laune. Dabei geht es kaum einem schlechter als ihr.

Kores mußte immer wieder bei Operationen an den Reserven assistieren. Und es war einfach nur schrecklich. Keiner der anderen hatte diese innere Stärke und Ruhe, die Torey gehabt hatte. Sie alle sprachen ähnlich wie er mit einfachen Worten, in einer Sprache in der medizinische Fachausdrücke mit Babysprache gemischt war. Sie alle hatten einen sehr geringen Wortschatz. Doch alle anderen behandelten Kores abweisend. Niemand war so tapfer wie Torey, hatte diese wache Neugier. Alle weinten oder wimmerten, wenn man den Strahler ausstellte. Kores erlebte, daß man ihn anflehte, obwohl er die Operationen ja nicht verhindern konnte. Er erlebte wie einige im letzte Augenblick in Panik gerieten und wegrannten. Die meisten aber ließen nur den Kopf hängen und taten widerstandslos was man ihnen sagte und nachher wimmerten sie wegen der unglaublichen Schmerzen, die man ihnen ohne jede Betäubung zumutete. Keiner von den anderen stellte Fragen. Nur Torey fragte ihm Löcher in den Bauch.

Kersti


FD6. Kersti: Fortsetzung: Teja
FD4. Kersti: Voriges: Arzt Kores
FDI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ersatzteil...
FD1. Kersti: Zum Anfang: Torey komm zum Ausgang
Thema: Atlantis

V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben

Sonstiges
Kersti: Hauptseite
Kersti: Suche und Links
Kersti: Über Philosophie und Autorin dieser Seite

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/     E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.