Gefallene Engel


Der Untote

FF16.

Der grausame Preis der Erlösung

Als ich etwa zwanzig war, hatte ich bei der Arbeit an einer Mauer einen Unfall, der mir das rechte Bein völlig zerquetschte. Ich band es sofort ab und befahl den anderen Halbmenschen die Trümmer von meinem verletzten Bein herunterzuräumen. Leider sah es so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte: die Knochen waren zersplittert und mit den zerfetzten Resten der Muskeln so vermischt, daß niemand das heilen konnte.

Mit leiser Stimme befahl ich einem der Nichtmenschen, den Herrn zu holen und schloß dann kurz die Augen. Das Bein mußte amputiert werden, wie ich wußte, aber das hatte keine Eile. Im Augenblick hatte ich nicht den Nerv dazu. Außerdem mochte es gut sein, daß der Herr entschied, mir die Kehle durchzuschneiden.

Schon nach Sekunden spürte ich eine leichte Berührung an der Schulter. Ich öffnete die Augen und sah dem Herrn ins Gesicht.
"Du hast umsichtig und tapfer gehandelt. aber von dir habe ich auch nie etwas anderes erwartet."
Ich bestätigte dieses Lob mit einem Nicken.

"Halt still. Ich muß dir das Bein amputieren."
Wieder nickte ich und machte mich auf die Schmerzen gefaßt. Er nahm sein Messer und entfernte Knochensplitter und Fleischfetzen, bis er eine einigermaßen glatte und saubere Wundoberfläche hergestellt hatte, verschloß die größten Adern an ihren Enden. Dann legte er ein Stück saubere Haut darüber und heilte die Wunde zu, wie auch ich schon viele Wunden in Sekundenschnelle so gründlich hatte verheilen lassen, daß die Narben aussahen, als wäre die Verletzung schon Jahre her. Rasch entfernte er die Aderpresse vom verheilten Beinstumpf, nahm mich auf die Arme, trug mich in sein Wohnhaus, legte mich auf eine Bank und gab mir zu trinken, um den Blutverlust auszugleichen.

Dann setzte er sich mir gegenüber und betrachtete mich sinnend. Ich schloß die Augen und entspannte mich willentlich. Die medizinischen Notmaßnahmen, die er ergriffen hatte, dienten vor allem dem Zweck, daß ich nicht starb, ehe er entschieden hatte, ob er mich am Leben lassen wollte.

Er war ein seltsam widersprüchlicher Mensch, dessen Verhalten unvermittelt von Freundlichkeit und Verständnis zu unfaßlichen Grausamkeiten umschlagen konnte. Ich hatte die Sorgfalt, mit der er an meinem Energiefeld gearbeitet hatte, damit ich normal leben und sterben konnte, lange genug beobachtet, um mir sicher zu sein, daß er es nicht - wie er immer behauptete - getan hatte, um einen billigen und willigen Sklaven zu haben, sondern daß er mir mehr als alles in der Welt tatsächlich helfen wollte. Er freute sich einfach zu sehr - und zu ehrlich - darüber wenn ich ihm von den wunderbaren neuen Erfahrungen erzählte, die mir das echte Leben geschenkt hatte. Die oft direkt auf die Arbeit folgenden Foltern, konnte ich mir nicht so leicht erklären. Ich spürte dahinter eine enorme, sehr bittere Wut. Nur konnte ich mir kein Grund dafür vorstellen. Ich hatte ihm wirklich nichts getan.

Er berührte mich sacht an der Schulter. Ich öffnete meine Augen und meine Muskeln verkrampften sich unwillkürlich, als ich sah, daß er das Messer wieder in der Hand hatte. Schließlich wollte ich nicht sterben! Das Leben war doch viel zu schön! Ich entspannte mich willentlich wieder. Bevor ich mich auf seine Hilfe eingelassen hatte, hatte er mir gesagt, daß er dafür von mir verlangte, daß er mir Körperteile dafür abhakken durfte. Ich habe mich ausdrücklich einverstanden erklärt, daß er von mir verlangen darf, was immer er will, bevor ich wußte, wie unglaublich viel ich dafür bekommen würde. Jetzt, wo ich gemerkt hatte, daß er mir viel mehr gegeben hatte, als ich damals ahnen konnte, würde ich dieses Einverständnis ganz gewiß nicht zurückziehen.

Er gab mir das Messer in die Hand und sagte:
"Schneide dir die Hoden ab. Dann kannst du zurückkehren und in einem Monat, wenn dein Fleisch dadurch milder schmeckt, kommst du zurück zum Schlachten. Ich erwarte dabei deine Mithilfe."
Ich nickte wortlos, setzte das Messer an, machte mich auf die Schmerzen gefaßt und tat wie befohlen. Nach dem Schnitt krümmte ich mich unwillkürlich vor Schmerzen zusammen. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich hörte mich wegen dieser überwältigenden Qual leise wimmern und brauchte mehrere Minuten, um meine Selbsbeherschung wiederzugewinnen. Dann heilte ich die Wunde zu und atmete erleichtert auf, als die Schmerzen nachließen.

Als ich schließlich wieder etwas Aufmerksamkeit für meine Umgebung übrig hatte, befahl er mir:
"Du erzählst niemandem, daß ich dich kastriert habe und schlachten will. Die Affenmenschen könnten sonst Angst bekommen."
"Vor meiner Frau kann ich das nicht geheimhalten. Wir schlafen jede Nacht miteinander und wenn ich verschwinde wird sie wissen, was geschehen ist."
"Ihr kannst du das ruhig sagen. Sag ihr nur, daß sie es nicht weitererzählen darf. Sie wird sich daran halten. Ich schicke dir jemanden, der dich zum Pferch zurückbringt." sagte er und stand auf, um den Raum zu verlassen.

"Warte Raidis." rief ich.
Er hielt zögernd inne.
"Weißt du, ganz gleich, wie schlimm es nächsten Monat wird. Ich werde dir ewig dankbar sein, für das, was du mir geschenkt hast. Und ganz gleich, wie viel Schlimmes du mir antust - ich werde dich immer lieben."
Er brach in Tränen aus. Ich setzte mich auf und streichelte ihn sacht. Und war froh, daß ich es gesagt hatte. Außer uns Untoten hatte er keine Freunde, das wußte ich genau.

Meine Frau war sehr traurig, als ich ihr alles erzählte, besonders weil ich jetzt ja unser gemeinsames Kind, das wir uns so sehr gewünscht hatten, nicht mehr erleben würde. Aber auch sie würde dem Herrn nichts verweigern, was er von ihr forderte.

Da ich mit einem Bein keine harte körperliche Arbeit leisten konnte, tat ich Dinge, die man im Sitzen tun konnte und arbeitete dabei mit den schwangeren Affenmenschenfrauen und den kleinen Kindern zusammen, die mich wegen meiner Behinderung plötzlich mit Verachtung behandelten.

Als der Monat um war, brachte meine Frau mich selbst in die Küche des Gutshauses, weil wir so ein paar Augenblicke mehr miteinander verbringen konnten. Sie sagte sogar, daß sie beim Schlachten zusehen und wegen der Schmerzen meine Hand halten wollte, doch der Herr schickte sie streng wieder an die Arbeit und sie gehorchte.

Dann wandte er sich mir zu und fragte:
"Du weißt wie man ein Tier häutet und ausnimmt?"
Ich nickte.
"Das machst du bei dir. Sobald du damit fertig bist, beginnst du dich zu zerlegen."
Ich nickte wieder und fragte dann:
"Entschuldige, aber meinst du wirklich, daß ich das schaffen kann? Ich bin jetzt nicht mehr unsterblich."
"Nein. Ich gehe davon aus, daß dich irgendwann zwischendurch der Tod erlöst. Aber ich erwarte, daß du sorgfältig arbeitest, so daß ich das Leder verwenden kann und bei stärkeren Blutungen die Adern wieder zuheilst, damit du möglichst lange durchhältst."
Wieder nickte ich. Aus meiner Zeit als Untoter konnte ich mich noch sehr gut erinnern, mit welchen Schmerzen dergleichen verbunden war. Aber bei ihm kam es einfach nicht in Frage, daß ich ungehorsam war.

Ich wappnete mich gegen die Schmerzen und führte den ersten Schnitt an der Innenseite des Beines hoch bis zum Penis, dann in der Mitte des Bauches nach oben bis zum Hals und an jedem Arm von den Händen bis zur Körpermitte. Dann begann ich am Bein die Haut abzuziehen.

Die Schmerzen waren noch schlimmer als erwartet, sie überwältigten mich beinahe. Meine Wahrnehmungen waren auch hier viel klarer und schärfer geworden. Oft mußte ich innehalten und all meine Willenskraft zusammennehmen, um die Schmerzen so weit zu unterdrücken, daß ich - irgendwie - weiterarbeiten konnte. Doch ich weigerte mich, aufzuhören, denn mein Herr hatte es mir befohlen. Als ich die Haut abgezogen hatte, schnitt ich mir den Bauch auf und achtete sorgfältig darauf, jede durchgeschnittene Ader sofort zu verschließen, während ich die Organe des Bauchraums herausnahm. Dann schnitt ich das Bein ab, doch als ich es zerlegen wollte, merkte ich - erleichtert - daß sich mein Körper nicht mehr mitbewegte, als ich den Arm mit dem Messer hob. Ich hatte den Halt im Körper verloren. Erleichtert schwebte ich nach oben und betrachtete voll Grauen die blutige, gehäutete beinlose Leiche, die unter mir lag.

Der Herr hatte gehört, wie das Messer hingefallen war und kam herüber. Zärtlich strich er über mein Gesicht und sagte:
"Faszienierend, diese Entschlossenheit."
*Typisch.* dachte ich *Widersprüchlich bis ins letzte*.
Dann begann er haltlos zu schluchzen.
"Warum hast du mich verlassen?" fragte er und meinte offensichtlich mich.
Die Antwort auf diese Frage kannte er natürlich selbst. Ich hätte ihn gerne getröstet, aber er nahm mich nicht wahr.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


FF17. Kersti: Folgendes: Der Erbe
FF15. Kersti: Voriges: Die jüngere Schwester
FFI. Kersti: Inhalt: Gefallene Engel
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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