FH11.

Wenn du ihn bestrafst, mußt du uns alle bestrafen...

Als der König aus dem abgeschirmten Raum herauskommt, wo er meinen Geist gelesen und zerstört hat, sieht er wie mitten im Raum eine Linuatina auftaucht. Kurz darauf erscheint die nächste. Dann noch eine. Ungläubig beobachtet er, wie nach und nach jede einzelne dieser Hüterinnen des Lichts mit ihren roten Gewändern in seinem Trohnsaal aus der Leeren Luft erscheint. Kurz darauf taucht einer der Hüter eines Außenpostens auf. Dann noch einer, bis etwa doppelt so viele Personen anwesend sind. Danach erscheinen Menschen in einfachen Gewändern und knieen sich vor die Linuartinen.

Wortlos beobachtete der König das unerhörte Geschehen. Seit Generationen hatte - so weit er wußte - niemand mehr seinen Körper so von Ort zu Ort versetzen können, wie diese Leute es taten. Ganz davon abgesehen, daß der einen Hälfte von ihnen das Verlassen der Tempel oder ihrer jeweiligen Außenposten verboten war während die andere Hälfte keinen Tempel betreten durfte.
*Sie wollen mich absetzen.* dachte er, erwartete, daß sie ihn mit ihrer bloßen geistigen Macht töten würden. Doch statt dessen stellte die älteste Linuartina lediglich eine Frage:
"Wo ist Jarthi?"
"Er bekommt die Strafe, die er für seinen Hochverrat verdient hat." antwortete der König und rief heimlich, meinte er, die Palastwache.
*Wenn ich sie nur noch ein bißchen hinhalten kann, kann ich sie besiegen.* dachte er.
"Jarthi hat keine Strafe verdient. Er ist derjenige, der die Tempel reformiert hat, so daß wir wieder genug Leute haben, um unsere Aufgaben zu erfüllen wie früher. Wenn du ihn bestrafen willst, dann mußt du uns alle bestrafen, denn wir alle sind über jede seiner Handlungen informiert und stehen zu ihm." sagte sie.
Die Wachen setzten die telepathischen Zerhacker in Gang, so daß die Linuartinen so wehrlos waren, wie jeder andere auch. Der König atmete erleichtert auf.
"Er ist längst bestraft." sagte er.
"Laß ihn frei. Er hat keine Strafe verdient!" sagte eine der Frauen.

Die Wachen stürmten in den Saal und nahmen sie gefangen, führten sie ab in die Kerker des Palastes. Die Linuartinen gingen widerstandslos und schweigend mit. Da sie ihr Leben lang in der behüteten friedlichen Welt der Tempel gelebt hatten, hatten sie ein Vertrauen in die Gerechtigkeit und die Bereitschaft zu friedlichem Handeln im Land, das längst nicht mehr gerechtfertigt war.

Der König versuchte, aus ihnen herauszufoltern, wer ihre Rädelsführer seien, doch sie sagten nur, daß sie alle die Tatsachen in der Chronik gelesen hätten und gemeinsam die Entscheidung trügen. Jeder der hier sei, wäre das aus eigener Entscheidung. Sie ließen die Foltern mit bemerkenswerter Gleichmütigkeit über sich ergehen und sagten kein einziges böses Wort zu den Folterknechten. Doch von Zeit zu Zeit baten sie, ihre Arbeit im Tempel tun zu dürfen, denn sonst würde es eine Mißernte geben. Die Bitte wurde ihnen nicht gewährt und es gab eine Mißernte. Daraufhin probte das Volk den Aufstand, denn sie litten Hunger.

Schließlich schickte der König einen Teil der Linuartinen mit den Hütern der Außenposten und ihren menschlichen Schülern in die Tempel zurück, einen Teil aber behielt er in den Kerkern, mit der Drohung sie zu Tode zu foltern, sollte es eine zweite Mißernte geben.

Von Stund an war das Wetter wieder, wie es sein sollte. Das Volk aber feierte ein großes Fest, wegen der Rückkehr der Hüterinnen. Und der König glaubte nun, das ganze Volk gegen sich zu haben.

Mein Bruder aber, der das Leben im Tempel viel besser kannte als mein Vater begann nachzudenken. Der König zwang ihn, bei den Foltern dabei zu sein und verlangte von ihm, er solle Geistlesungen machen.

Mein Bruder gehorchte in dem Wissen, daß die Frauen ihn jederzeit aus ihrem Geist hätten herausschleudern können, wenn sie das versucht hätten. Stattdessen hießen sie ihn immer in ihrem Geist willkommen.

Er dachte über die Dinge nach, die er dabei erfuhr und ihm wurde bewußt, daß sein Vater sich irrte, wenn er hinter ihren Entscheidungen eine Rebellion vermutete. Sie hatten eine Aufgabe - und sie hatten sich lediglich bemüht, die Entscheidungen zu treffen, die notwendig waren, um ihre Pflichten im Dienste des Volkes zu erfüllen.

Eine Revolution würde aber zu viel im Land zerstören, so daß sie das von sich aus nie in Betracht gezogen hätten. Mein Bruder Jeredith begriff auch, was ich vorgehabt hatte - daß ich bereit gewesen wäre, zu sterben und jede andere Strafe widerspruchslos zu akzeptieren, um den Plan zur Ausbildung von Menschen für die Tempel geheimzuhalten, bis mein Bruder den Trohn übernommen oder ihn von der Notwendigkeit dieser Aufgabe hätte überzeugen können, weil ich die Ängste meines Vaters von vorneherein richtig eingeschätzt hatte.

Doch die Linuartinen waren mir hatten gegen meinen ausdrücklichen Willen zu mir gestanden.

Kersti


FH12. Kersti: Folgendes: Rückkehr ins Leben
FH10. Kersti: Voriges: Ein Geist wie grauer Staub...
FHI. Kersti: Inhalt: Der Grund für den Untergang von Mu
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