Veröffentlicht in Zeitschrift: Idee und Bewegung: 4/96
erste Version hier: 15.2.00

Märchen / Fantasy

G2.

Die Freundschaftskerze

In einer fernen Seeräuberburg, lebten einmal zwei Freunde, die einander so sehr liebten, daß sie alles gemeinsam taten. Sie wurden verachtet, mißhandelt und mußten alle Arbeit tun, die den Räubern nicht gefiel. Mit der Zeit wuchs in ihnen der Wunsch, einen Ort zu suchen, wo Liebe mehr zählt als Macht. So entwendeten sie ein Boot und flohen über das Meer. In einem fernen Hafen legten sie an und zogen ins Landesinnere, zu einem kleinen, friedlichen, abgelegenen Dorf, mit freundlichen, hilfsbereiten Menschen.

Dort versteckten sie sich in einer Scheune, zündeten eine Kerze an und beratschlagten.
"Die Seeräuber suchen zwei Freunde, die nie getrennt sein mögen. Blieben wir zusammen, fänden und töteten sie uns", sagte der eine.
"Freundschaft ist zu wertvoll, um sie wegzuwerfen wie ein altes Spielzeug." entgegnete der andere.

Nach einigem Überlegen beschlossen sie:
"Laß unsere Freundschaft wie diese Kerze sein, die nur wir beide sehen. Wir wollen scheinen wie Fremde, die einander nicht kennen noch verstehen."

Lange noch beobachteten die beiden die kleine, helle, warme Flamme der Kerze, die im Verborgenen brannte. Und sie fühlten sich warm und geborgen in ihrer Freundschaft.

Im Dorf suchten beide eine Anstellung. Sie arbeiteten bei verschiedenen Herrn und kamen vor anderen nicht zusammen. Gab es zwei Meinungen oder zwei Mannschaften, schlossen die Freunde sich verschiedenen Seiten an. Sieben Jahre vergingen. Alle glaubten, die Freunde seien einander feind. Sie lernten, miteinander zu diskutieren und kämpfen, Gegner zu sein. Jedoch achteten sie darauf, einander nicht wirklich zu verletzen, denn sie spürten die Wärme der Freundschaftskerze in ihren Herzen.

Dennoch wurden sie gefunden. Die Menschen des Dorfes hätten die Räuber leicht vertreiben können. Doch da sie nicht einig waren, wie sie das tun wollten, mußten die Freunde fliehen. Lange brauchten sie, um ihre Verfolger abzuschütteln. Sie suchten ein neues, friedliches Dorf, trafen sich wieder in einer abgelegenen Scheune und zündeten eine Kerze an.

"Wir wußten, daß wir Freunde sind", sagte der eine, "aber durch unseren ständigen Streit brachten wir dem Dorf Unfrieden, in dem wir lebten."
"Das ist wahr", sagte der andere, "diesmal sagen wir, daß wir einander mögen und achten, obwohl wir verschiedener Meinung sind."
Lange noch betrachteten die Freunde schweigend die Kerze, die im verborgenen brannte, und ihnen ein Gefühl von Wärme und Sicherheit schenkte, ehe sie aufbrachen und unten im Dorf jeder eine Anstellung suchten.

Es war fast wie im ersten Dorf. Die Freunde schlugen sich zu gegnerischen Parteien und fanden immer Wege, nicht einig sein zu müssen. Und doch änderte sich alles. Wannimmer einer des anderen Argumente zu widerlegen trachtete, lobte er ihn zuvor für die gute Beweisführung und dankte, daß dieses Thema zur Sprache gebracht worden war. Dann erst begann er seinen Standpunkt zu vertreten. Weil alle Menschen Lob lieben, hörten ihm seine Gegner zu. Sie lernten nach und nach, die fremde Meinung zu verstehen oder wenigstens zu achten. Oft führte das zu Einigung. Es ist keinem Menschen gegeben, die ganze Wahrheit erkennen zu können. So war es manchmal unmöglich zu entscheiden, wer recht hatte. Deshalb lernten die Menschen desDorfes, verschiedener Meinung zu sein und einander doch zu achten und lieben.

Jahre später fanden die Seeräuber das Dorf. Sie versuchten Unfrieden zu stiften, um die beiden Freunde ungehindert entführen zu können. Doch so sehr sie sich auch mühten, die Menschen des Dorfes blieben einander wohlgesonnen, obwohl jeder eine andere Meinung vertrat. Da mußten die Seeräuber unverrichteter Dinge gehen.

Solltest du einmal in jenes Dorf kommen und heimlich in eine der Scheunen dort schauen, so wirst du bestimmt eine der vielen, verborgenen Freundschaftskerzen brennen sehen.

Ist es nicht Zeit, daß wir auch eine solche Kerze zwischen uns anzünden?

Kersti

Quelle

Dieses Märchen habe ich geträumt. Die Märchenfassung unterscheidet sich inhaltlich nicht vom ursprünglichen Traum und wurde nur an die Erzählform des Märchens angepaßt. Bie letzen beiden Absätze ab "Solltest Du einmal in jenes Dorf kommen..." wurden nachträglich hinzugefügt.
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Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de