Die Macht des Vertrauens

Es waren nicht die scharfen Schwerter in den Händen der Männer, die mich erschreckten. Nicht die drohende Körperhaltung der Zeloten, Freiheitskämpfer für das jüdische Volk, machte mir Sorgen. Es lag eine Spannung in der Luft, eine Art Kribbeln, das mir verriet: Eine falsche Bewegung, ein Wort im falschen Augenblick und ich werde diesen Tag nicht überleben. Reflexartig entspannte ich sämtliche Muskeln, vergaß jeden Gedanken an Gestern und Morgen. Ich wurde innerlich ruhig, friedlich, öffnete mich den Menschen um mich herum. Das ist der Bewußtseinszustand, in dem man die Fähigkeit hat, schneller und richtiger auf alles zu reagieren, was geschieht, als das sonst möglich ist. Neben mir spürte ich die ruhige, verläßliche Nähe meiner Gefährtin Mirchia. Auch sie wußte um die Gefahr und hatte sich in den Zustand meditativer Ruhe fallen lassen. Ich spürte, wie sie im gleichen Augenblick wie ich die Situation einschätzte, Flucht und Angriff als verantwortungs- und hoffnungslos verwarf. Unser Leben lang hatten wir von dem Vertrauen profitiert, das die Menschen Heilern wie uns schenkten die das weiße, nahtlos gewebte Gewand trugen. Es hatte uns die Möglichkeit gegeben, uns unbehelligt unter Verbrechern, Räubern, Dieben, den ärmsten der Armen aber auch unter einfachen Bauern, reichen Städtern oder Soldaten der römischen Besatzungsmacht zu bewegen. Wir hatten nicht das Recht dieses Vertrauen zu zerstören, das für alle Heiler, die das weiße Gewand trugen wie wir, der wichtigste und oft einzige Schutz war. Es konnte natürlich keine vollkommene Sicherheit bieten, das kann nichts auf dieser Welt. Mirchia sammelte sich, sah den Anführer der Zeloten an. Ruhig und freundlich fragte sie:
"Womit können wir euch dienen?"
"Wir haben Verletzte. Kommt." antwortete der Mann knapp.

Wir beiden gingen wortlos mit, ohne die immer noch auf uns gerichteten Waffen und die bedrohliche Stimmung, die in der Luft lag, zu beachten. Wir bewegten uns mit einer Würde und Selbstsicherheit, als wären die Zeloten keine Bedrohung, sondern unser Gefolge oder eine Ehrenwache. Vor der Tür ihres Hauses blieb ich kurz stehen, schloß die Augen und ließ Frieden in mir einziehen. Aus tiefstem Herzen sprach ich die Segensworte, die Jesus uns ans Herz gelegt hatte:
"Der Herr segne dieses Haus und alle, die hier ein- und ausgehen."
Diese Zeloten um mich her, die so von Sorgen, Zorn und Ängsten zerrissen waren, brauchten den Segen weit dringender, als die freundlichen Menschen, die uns sonst so oft zu einer Malzeit in ihre Häuser einluden.

Der Anführer brachte uns in das geheime Versteck der Zeloten, wo zwei seiner Männer schwer verletzt lagen. Ohne unsere Hilfe wären sie innerhalb der nächsten zwei Tage gestorben. Er liebte diese Männer, fühlte sich für sie verantwortlich und war bereit, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um ihnen zu helfen. Doch uns, den Heilern wagte er nicht zu vertrauen. Mirchia übernahm den schwerer Verletzten, ich den, dem es besser ging. Mit wenigen, ruhigen Worten wiesen wir Bewaffneten an, uns zu bringen, was wir außer den Salben aus unseren Heilertaschen für unsere Arbeit brauchten. Für die nächsten Stunden waren wir sicher: Solange ich arbeitete, würde mir keiner der Zeloten etwas tun. Ich kniete mich neben meinen Verletzten, bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Ich mußte mich in die richtige Stimmung für meine Arbeit bringen. Ich vergaß jeden Gedanken an Gefahr, jede Sorge, alles was mich betraf. Meine ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Kranken, dem ich helfen wollte. Nur so konnte ich gute Arbeit leisten. Mit schnellen, sicheren Bewegungen entfernte ich die notdürftig angelegten, durchgebluteten Verbände, reinigte die Wunden, nähte, wo das notwendig war, strich Heilsalbe darauf und legte neue, saubere Verbände an. Ich sank tiefer in jenen ruhigen, friedlich konzentrierten Zustand hinab, dann legte sich das farbige Bild der Aura über das Bild des Verletzten. Die Aura ist ein feinstofflicher Körper, der aus den aus der Energie der Gefühle besteht. Immer, wenn ein Mensch krank wird, bedürfen auch seine Gefühle und Gedanken der Heilung. In einigem Abstand zum Körper strich ich durch die Luft, streichelte die grauen und schmutzigbraunen Ablagerungen aus Erschöpfung und Krankheit fort. Im Grunde wäre es für meine Arbeit nicht nötig gewesen, daß ich meinen materiellen Körper bewegte, aber es war eine Konzentrationshilfe. Wo das nötig war, ließ ich durch meine Hände zusätzliche Energie in den Körper des Kranken strömen. Als ich mit dieser Arbeit fertig war, war er immer noch nicht außer Lebensgefahr. Ich begann zu beten. In meinem Inneren suchte ich nach dem Frieden der Ruhe, verband mich mit dem Geist des Verletzten, sprach alte und vertraute Worte des Friedens.

Allmählich baute sich der Kontakt auf. Zuerst nur Tröpfchenweise, dann langsam und stetig und schließlich so reichlich, wie ich sie lenken konnte floß mir die Kraft von jener liebevollen, freundlichen, guten Macht zu, die älter ist, als diese Wirklichkeit. Vertrauensvoll ließ ich mich ganz auf dieses Strömen ein. Es gab nichts, vor dem ich mich hätte in acht nehmen müssen. Gott kann man vorbehaltlos vertrauen. Irgendwann kam ich wieder zu mir. Ich wußte, ich hatte meine Aufgabe erfüllt. Es war Zeit, mich wieder mir selbst und dem Leben zuzuwenden. Ich kniete immer noch vor dem verletzten Zeloten. Doch etwas hatte sich verändert. Durch meine Arbeit hatte ich ihn kennen und lieben gelernt. Sein Schlaf war jetzt ein Schlaf der Heilung. Ich wußte, daß er wieder gesund werden würde. Hinter mir aber war der Tod. Es dauerte einen Augenblick, bis ich den vagen Eindruck von Gefahr mit der Erinnerung an den Anführer der Zeloten in Verbindung brachte, der hinter mir stand. Mit einer fließenden, ruhigen Bewegung stand ich auf und drehte mich um. Ich war so langsam, daß er nicht darauf reagierte, sondern unbeweglich stehenblieb, als hätte ich mich nicht gerührt. Aus den Augenwinkeln registrierte ich das scharfe Messer, mit dem er mich von hinten hatte erstechen wollen, sobald ich mit meiner Arbeit fertig war. Hätte ich es nur eines Gedankens gewürdigt, hätte er das auch getan. Doch ich sah ihm ruhig, tiefernst, gerade in die Augen, öffnete ihm vorbehaltslos meinen Geist. Der Zelot konnte meinem Blick nicht erwidern, versteckte das Messer hinter der Hand. Er schämte sich, doch brachte er nicht den Mut auf, mir zu vertrauen und das Leben und Sicherheit seiner Leute und der Menschen, die ihm ihr Haus als Versteck zur Verfügung gestellt hatten, in meine Hände zu legen. Ich hätte sein Vertrauen nicht mißbraucht, doch das konnte er nicht wissen. Ich wartete. Der Augenblick kam, wo die Situation sich veränderte, die Spannung nachließ. Ich lächelte und sagte:
"Ich gehe jetzt zu meiner Gefährtin und helfe ihr bei dem zweiten Verletzten."

Die Zeit, das wußte ich, arbeitete für mich. Ein Teil seines Wesens wollte mir vertrauen, wollte mich lebendig und gesund sehen. Um seiner selbst willen wäre er nie bereit gewesen, mir Schaden zuzufügen. Indem ich meiner Ehepartnerin half, brach ich eine Regel, die Mirchia und ich uns für unsere Arbeit gesetzt hatten. Wenn einer von uns beiden die Behandlung eines Kranken allein begonnen hatte, so führte er sie auch alleine, ohne Hilfe zuende. Doch diesmal wäre es für mich absolut tötlich gewesen, untätig dabeizustehen, währed sie arbeitete. Mirchia hob den Blick, sah mich ruhig und ernst an. Sie wußte, warum ich die Regel brach, stimmte meiner Entscheidung zu. Wir reichten uns über den Körper des Verletzten hinweg die Hände und beteten gemeinsam um Hilfe für ihn.

Als wir fertig waren, hatte der Zelot den Tisch für uns mit Brot und Wein gedeckt. Allgegenwärtig lag die tödliche Bedrohung in der Luft. Ich brach das Brot und sprach den Segen. Das Brot war altbacken. Es konnte deshalb kein Gift enthalten. Langsam begannen Mirchia und ich zu essen. Während der Malzeit unterhielten wir uns über eine ähnlich kritische Situation, als wir bei einem römischen Offizier zu Gast gewesen waren.
"Ich habe mich damals ehrlich gefragt, ob der Wein wohl vergiftet sein würde." sagte ich leise zu Mirchia.
"Ich auch. " entgegnete meine Frau gedankenverloren.

Der Zelot, für dessen Ohren diese Unterhaltung eigentlich bestimmt war, wußte nicht, wo er hinschauen sollte. Obwohl wir sehr langsam aßen, war bald der letzte Krümel des Brotes vertilgt. Ruhig griff Mirchia nach dem Becher mit dem Wein, sprach den üblichen Segen. Sie zweifelte nicht daran, daß er vergiftet war. Doch es hätte uns nichts geholfen, den Wein abzulehnen. Er hatte genug erfahrene Kämpfer, die uns gehorsam erschlagen hätten. Ruhig, ohne Zorn hob Mirchia den Becher. Ich kann mich erinnern, daß sie lächelte.
"Habe ich dein Versprechen, daß du nichts von diesem Ort und deinem Erlebnis hier erzählst?" fragte der Mann.
"Ja, ich verspreche es Dir." antwortete ich.
"Ich auch." ergänzte Mirchia und führte den Becher endgültig zum Mund, um den ersten Schluck zu nehmen.
Plötzlich zuckte die Hand des Zeloten vor, ergriff ihr Handgelenk und verdrehte den Arm, so daß der Wein auf den Tisch verschüttet wurde.
"Der Wein ist nicht gut genug für euch. Wartet, ich gehe besseren holen." sagte der Anführer der Zeloten.

Wir beide, Mirchia und ich waren dermaßen erleichtert, daß wir nur stumm und steif wie Statuen dasaßen. Erst als der Anführer der Zeloten eine ganze Weile später unvergiftetem Wein brachte, gelang es uns, zu normalem Verhalten zurückzukehren. Wir fühlten uns zutiefst erschöpft von dieser Gefahr und unserer Arbeit als Heiler. Wir redeten nicht darüber, daß wir wußten, daß er uns anfangs hatte ermorden wollen. Der Zelot schämte sich dieser Absicht zu sehr. Jedes Wort hätte er als Vorwurf aufgefaßt, den er nicht hätte ertragen können. Es bestand die Gefahr, daß er uns doch noch getötet hätte, nur um diesen Vorwurf zum schweigen zu bringen. Wir machten kleine wortlose Andeutungen, die ihm später, wenn er in Ruhe darüber nachdächte, verraten würden, daß wir seine Absicht durchschaut hatten und daß es verziehen war.

Wie oft habe ich später, bedauert, daß ich ihm hatte versprechen müssen, über dieses Erlebnis zu schweigen. Es ist die schönste Geschichte, die man erzählen könnte, um anderen Menschen bewußt zu machen, welch große Macht Vertrauen hat. Der Anführer der Zeloten aber war ein anderer geworden. Er schloß sich Jesus an und wurde mein Freund.

In diesem Leben hat meine beste Freundin Esther Fiess, die damals jener Zelot war, mir erlaubt, diese Geschichte jedem zu lesen zu geben, den sie interessiert.


J3. Kersti: Fortsetzung: Jesu Kreuzigung
J2. Kersti: Voriges: Weitere Stationen von Jesu Kindheit
KI. Kersti: Inhalt: Erinnerungen an Jesus
FFI. Kersti: Inhalt: Gefallene Engel
Kersti: Warum ich so gerne über Jesus lese
Kersti: Fehlerquellen beim Erinnern an frühere Leben
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